Cranston löste den Schädel jetzt ganz von der Wirbelsäule. Das Knacken hallte durch die Kirche wie Donner. Athelstan schloß die Augen und murmelte ein Gebet. »Gott schenke ihr die ewige Ruhe«, sagte er. »Herr, du bist unser Zeuge: Wir beabsichtigen keine Unehrerbietigkeit; wir suchen nur die Wahrheit.«
»Der liebe Gott wird das verstehen«, dröhnte Cranston; er hob den Schädel hoch und hielt die Kerze noch näher. »Vergiß die frohe Botschaft nicht, Athelstan: Auf den Geist kommt es an, denn das Fleisch ist nichtig. Und jetzt, mein guter Mönch …«
»Ordensbruder, Sir John.«
Der Coroner grinste boshaft. »Natürlich. Aber ich will dir Cranstons Philosophie von Beobachtung und Deduktion darlegen. Schau den Schädel genau an, Athelstan, und sag mir, was du siehst.«
Er hielt dem Priester Schädel und Kerze hin, und dieser leuchtete in die Öffnung hinter dem Kiefer und inspizierte eingehend das Innere des Schädels. »Nichts«, murmelte er dann.
»Na, na, Bruder. Zuviel Ale vernebelt das Hirn und macht die Augen stumpf.« Cranston drückte seinen Arm. »Schau noch einmal.«
Athelstan tat es und schnappte nach Luft. Er schob die Kerze weiter hinein.
»Gib acht, daß du nicht den Knochen verbrennst«, warnte Cranston.
Athelstan betrachtete die rötliche Färbung unter der Schädeldecke. »Wie rote Farbe«, murmelte er. »Sehr schwach.« Cranston nahm ihm Schädel und Kerze ab und hielt beides so in der Hand, daß er im trüben Halbdunkel aussah wie ein Meister der Schwarzen Kunst. Er blies die Kerze aus und legte den Schädel wieder in den Sarg. Er klappte den Deckel zu, nahm Platz und klopfte auffordernd neben sich auf die Holzbank, Athelstan solle sich zu ihm setzen. »Meine Theorie, guter Mann«, begann er hochtrabend, »basierend auf Beobachtung, Logik und Deduktion, besagt, daß dieses Skelett einer jungen Dame gehörte, die ermordet und in dieses Loch unter dem Altar gelegt wurde. Von wem, das weiß ich nicht.«
»Und wie wurde sie ermordet?«
»Durch Ersticken oder Strangulieren.«
»Wie könnt Ihr das beweisen?«
»Ich habe es schon ein paarmal gesehen. Ein genuesischer Arzt hat mir die Zeichen beschrieben. Wenn jemand erstickt oder erwürgt wird, platzen offenbar die Blutgefäße im Gehirn, und der Schädelknochen wird vom Blut befleckt.«
»Und Ihr glaubt, so ist es hier passiert?«
»Ich weiß es sogar, mein Bester. Die Frage ist, wer hat es getan und warum? Es könnten die Arbeiter gewesen sein, die die Platten verlegt haben.«
»Oder der Priester, der hier gewohnt hat.« Cranston tätschelte seinen Schenkel. »Ja, ja. Wir dürfen auch Fitzwolfe — gesegneten Angedenkens — nicht vergessen. Vielleicht sollten wir der Liste seiner Verbrechen noch Mord hinzufugen.«
Athelstan schaute sich in der Kirche um. Jetzt wirkte sie nicht mehr freundlich oder fröhlich. Ein furchtbarer Mord war hier begangen worden, und die schreckliche Sünde schien wie eine lastende Wolke über dem Gebäude zu hängen. Gab es nirgends Sicherheit? fragte er sich. Sickerten Mord und grausiger Totschlag in jede Ritze, jeden Spalt der menschlichen Existenz? Ihn schauderte, und er stand auf. »Sir John, Ihr habt gesagt, Ihr wolltet mich in einer eigenen Angelegenheit sprechen?« Cranston zog eine Grimasse.
»Ja, aber nicht hier, Bruder. Hast du noch was von diesem ausgezeichneten Wein?«
»Eine Flasche habe ich heute verbraucht, aber eine ist noch da für Euch, Sir John.«
»Gut, dann laß uns von hier verschwinden. Ich bekomme allmählich eine Gänsehaut, und mein Magen brüllt nach dem Saft der Rebe.«
Athelstan schloß die Kirche sorgfältig ab und führte Sir John hinüber zum Pfarrhaus. Gottlob war Bonaventura wieder verschwunden. Athelstan schloß die Läden, zündete die Kerzen an und entfachte das Feuer mit etwas Reisig neu. Er schenkte für Sir John und sich zwei große Becher Wein ein. Cranston zog die Kerze zu sich und schob eine kleine Pergamentrolle über den Tisch. »Lies das, Bruder.«
»Warum?«
»Lies es einfach.«
Athelstan schnürte das Pergament auf und studierte die geübte Handschrift eines Schreibers. Er las einmal und blickte dann verwundert auf.
»Eine sonderbare Geschichte, Sir John. Was habt Ihr damit zu tun?«
Cranston erzählte, und Athelstan stöhnte auf. »Oh, Sir John, um der Liebe Gottes willen, Ihr sitzt in der Falle! Wißt Ihr denn nichts von diesen Rätseln, diesen raffinierten Mosaiks der Logik? Manche sind jahrhundertealt und wurden nie gelöst.«
Cranston zuckte die Achseln. »Ich denke, dies hier ist eine wahre Geschichte.«
»Sir John, das könnte Euch tausend Kronen kosten - oder, wenn John von Gaunt Euch in die Finger kriegt, Eure Integrität.«
»Dann hilf mir, Bruder.« Cranston leerte seinen Becher und stellte ihn dröhnend auf den Tisch.
Athelstan sah die Bangigkeit im sonst so gutgelaunten Gesicht des Coroners. »Ich werde mein Bestes tun.«
Cranston wollte seinen Becher wieder bis zum Rand füllen, doch dann besann er sich anders. Er wagte es nicht. Er wollte nicht betrunken nach Hause kommen. Bis jetzt hatte er die Angelegenheit geheimgehalten, nur er und Athelstan wußten davon. Ob Lady Maude irgendwelche Gerüchte gehört hatte? »Ihr müßt es ihr erzählen, Sir John«, sagte Athelstan leise, als habe er des Coroners Gedanken gelesen. »Ihr müßt es Lady Maude sagen.«
»Aye, aber das ist es ja gerade. Meine Frau weiß, daß ich Gaunt niemals um Hilfe bitten werde, aber woher soll ich tausend Kronen nehmen? Von den Bankiers? Da werden noch meine Urenkel die Zinsen zahlen müssen.« Athelstan beugte sich vor und legte dem Coroner die Hand auf die dicke Faust.
»Mut, Sir John. Denkt immer daran: Wenn es ein Problem gibt, so diktiert die Logik, daß es auch eine Lösung dazu geben muß.«
Cranston erhob sich und griff nach Bibermütze und Mantel.
»Aye, Bruder. Ich werde mich nach deiner Kirche erkundigen und nach dem Aufenthalt des geheiligten Fitzwolfe.« Er scharrte mit den Füßen und spähte zu den Deckenbalken hinauf.
»Da ist noch etwas, nicht wahr, Mylord Coroner?« Cranston plumpste wieder auf den Schemel. »Ja, das stimmt. Ich hatte Besuch.«
»Von wem?«
»Von deinem Pater Prior.« Athelstan starrte ihn verblüfft an.
»Na ja …« Cranston leckte sich die Lippen und schaute sehnsüchtig auf seinen Weinbecher. »Wie du weißt, findet da eine Sitzung des Generalkapitels statt, bei der die Schriften eines deiner Brüder erörtert werden sollen.«
»Ja. Bruder Henry von Winchester. Warum?« Athelstans Stimme wurde höher. »Was hat das mit mir zu tun?«
»Gar nichts, aber - um es kurz zu machen, Athelstan, in Blackfriars gehen seltsame Dinge vor sich. Ein Mönch ist tot, und ein anderer namens Alcuin ist verschwunden.«
»Alcuin!« hauchte Athelstan und sah das asketische Gesicht seines Mitbruders vor sich. »Verschwunden, Sir John? Alcuin war für das Klosterleben wie geschaffen. Ich könnte mir nie vorstellen, daß er über die Klostermauer springt und mit Hallo ins Fleischerviertel galoppiert, um sich dort mit einer hübschen Dirne zu treffen.«
»Nun, er ist verschwunden, und Pater Prior hat mich gebeten, die Sache zu untersuchen.« Cranston schluckte heftig. »Am Mittwoch kommt er zu dir. Das heißt, wir kommen beide. Ich nehme an, er will dich um Hilfe bitten.« Athelstan schlug die Hände vors Gesicht. »O Gott!« betete er. »Nicht das. Nicht wieder zurück nach Blackfriars und zur Politik des Ordens.«
Und dann fluchte er, murmelte jedes schmutzige Wort, das er von Cranston gelernt hatte. Er war so glücklich gewesen; da waren zwar seine üblichen Pflichten als Cranstons Schreiber, aber nichts Ernstes, nicht seit jenen blutigen Morden im Tower am letzten Weihnachtsfest. Er hatte sich in das Studium der Sterne versenkt, in seine Plaudereien mit Bonaventura, er hatte seinen Pfarrkindern geholfen und - vor allem - seine geliebte Kirche renoviert. Und jetzt würde seine schwer errungene friedliche Ruhe zerstört werden: von Sir John mit seinem Problem, von Benedicta mit ihren Sorgen um ihren Ehemann, von dem Skelett in der Kirche und vom Pater Prior, der seine Hilfe wollte. Er schaute Cranston an.