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»Laßt mich darüber nachdenken«, sagte er. Er richtete sich zu voller Höhe auf und sah sich unter seinen Gemeindemitgliedern um. »Ihr Kindlein«, rief er und benutzte die Anrede, mit der er sonst seine Predigten eröffnete. »Ich bitte euch, seid achtsam und umsichtig. Gott wirkt Wunder. Dieser Tag ist ein Wunder. Jeder von euch, einzigartig in sich selbst, ist ein Wunder. Überstürzt nichts, denn diese Angelegenheit ist noch nicht geklärt. Ich will mich nicht gegen euch stellen, aber überlegt euch, was dies für euch und eure Gemeinde am Ende bedeutet. Ihr seid gute Leute, aber ich glaube, ihr seid verblendet.«

»Was ist mit dem Wunder?« schrie Mugwort. »Was ist mit unserem Märtyrer?«

Athelstan lächelte. »Wie der Psalmist sagt, Mugwort: Wer kennt die Wege Gottes? Wir werden sehen, wir werden sehen.«

Er machte auf dem Absatz kehrt und ließ sie stehen. In seinem Haus angekommen, stürzte er trotz der frühen Stunde einen Becher Wein herunter, und zwar mit einer Geschwindigkeit, für die ihn der Lord Coroner bewundert hätte.

VIER

Am Montag nach dem Großen Wunder von St. Erconwald saß Athelstans Ordensoberer, Pater Anselm, mit den Mitgliedern des Generalkapitels in seinem Studierzimmer und fragte sich, ob ein Meuchelmörder in Blackfriars sein Unwesen treibe. Bruder Brunos Treppensturz in die Krypta und, merkwürdiger noch, Bruder Alcuins Verschwinden rückten dies in den Bereich des Möglichen - als gäbe es nicht schon genug Dinge, die den Verstand strapazierten und den Körper ermüdeten.

Er schaute seine Ordensbrüder an, die an dem langen Holztisch versammelt waren: den hakennasigen, scharfäugigen Großinquisitor William de Conches, den glattgesichtigen, knabenhaften, aber blitzgescheiten Theologen Henry von Manchester, Bruder Callixtus, den Bibliothekar mit den langen, tintenbefleckten Fingern, der vom angestrengten Lesen in Manuskripten und Büchern ganz schwache Augen hatte. Der magere, eckige Bibliothekar fühlte sich offenbar unwohl, denn er zappelte auf der Bank herum und trommelte mit den langen Fingern auf der Tischplatte, als wäre er eigentlich lieber woanders. Neben ihm saß Bruder Eugenius, kahlköpfig und mit einem Gesicht wie ein Posaunenengel; seine gedrungene, rundliche Gestalt, seine freundlichen Augen und sein lächelnder Mund ließen nicht vermuten, daß er einen furchterregenden Ruf genoß: Er war der Gehilfe des Großinquisitors, ein Fanatiker, der überall Häresie und Spalterei witterte. Außerdem saßen da noch die beiden Gegner des Bruders Henry, die Verteidiger des Glaubens, die seine theologische Abhandlung untersuchen und den Nachweis logischer Unrichtigkeit erbringen oder aber einwenden sollten, daß sie sich gegen die orthodoxen Lehren der Kirche richte. Gleichwohl waren diese Verteidiger des Glaubens liebenswerte Männer. Peter von Chingforde war stämmig und kräftig, und sein dunkles, bärtiges Gesicht lächelte immer. Er war bodenständig und hatte einen ziemlich unverblümten Humor, den er bei seinen subtilen und geschickten Befragungen nicht erkennen ließ. Neben ihm saß, rothaarig und blaß, der irische Dominikaner Niall von Harryngton.

Der Ire sah den Prior jetzt von der Seite an und summte eine Hymne, dabei trommelte er einen kleinen Wirbel auf die Tischplatte. Der Prior lächelte matt. Er wußte, daß Bruder Niall stets ungeduldig war und jetzt zur Tagesordnung zurückkehren wollte, aber es gab andere, dringlichere Angelegenheiten - nicht nur Brunos Tod und Alcuins Verschwinden, sondern allgemeine Klosterangelegenheiten, und insbesondere die nachdrücklichen Bitten des Subsakristans Bruder Roger. Der Prior seufzte. Er mußte dem Mann wirklich ein wenig Zeit gewähren; aber Roger, ein Laienbruder, der Jahre zuvor der Inquisition in die Hände gefallen war, als er in einer Gemeinde außerhalb von Paris diente, war gebrochen im Geiste, schwach an Verstand und voller Angst vor William de Conches und seinem tückischen Gehilfen Eugenius. Mit schmalen Augen musterte Anselm die beiden; sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, und er überlegte, ob er sie dem Generalkapitel in Rom melden sollte. Gewiß, der Psalmist sang: »Der Eifer für dein Haus verzehrt mich.« Aber der Enthusiasmus und der Eifer, mit denen dieses kostbare Paar jegliche Ketzerei verzehren wollten, würde womöglich jedermann mit verschlingen. Er blickte starr auf die Tischplatte. Bruder Henry saß mit gespreizten Händen da und wartete, daß die Debatte ihren Fortgang nähme. »Pater Prior«, sagte jetzt Bruder Niall, »wir haben eine Pause gemacht, haben die None gesungen, gegessen und getrunken. Sollten wir jetzt nicht fortfahren?«

Seine Frage löste vielstimmigen Beifall bei seinen Kollegen aus. Der Prior nickte und winkte Bruder Henry zu. Der junge Dominikaner lächelte und strich mit den Fingerspitzen über die Tischplatte.

»Pater Prior«, Bruder Henry sprach leise, aber sehr deutlich, »meine Grundthese ist folgende: Allzusehr betont man die Tatsache, daß Christus ein Mensch wurde, um uns von unseren Sünden zu erlösen.« Er hob eine Hand. »Wenn aber der ehrwürdige Aquinas recht hat mit seiner Studie über die göttliche Natur, so ist Gott das ›Summum Bonum‹, das Höchste Gute. Wie kann aber das Höchste Gute, die Göttliche Schönheit, sich durch die Sünde zum Handeln bewegen lassen? Überdies« - Bruder Henry sah jetzt William de Conches an -, »wenn Gott allmächtig ist, warum konnte Er uns dann nicht durch eine einfache Verfügung von der Sünde erlösen?«

Der Prior klopfte auf den Tisch. »Bruder Peter, Bruder Niall, was antwortet Ihr darauf?«

Bruder Peter gluckste und grinste ihn an. »Wir versuchen nicht, darauf zu antworten, denn Bruder Henry spricht die Wahrheit. Gott ist das Höchste Gute, die Göttliche Schönheit, und er ist allmächtig. Eine solche These fechten wir nicht an.«

Die beiden Inquisitoren reckten die Hälse wie Falken und warteten darauf, daß Bruder Henry fortfuhr. Der Prior war plötzlich sehr müde. »Wir können nicht fortfahren«, teilte er seinen verblüfften Kollegen mit.

»Wie meint Ihr das?« schnarrte William de Conches. »Pater Prior, wir haben uns hier versammelt, um über bestimmte Dinge zu debattieren und zu diskutieren. Hier geht es um die Reinheit der kirchlichen Lehre.«

»Nein, Bruder William«, fauchte der Prior. »Hier geht es um Leben und Tod. Bruder Bruno kam unter mysteriösen Umständen ums Leben. Manchmal fürchte ich, er könnte ermordet worden sein.«

Seine Sätze riefen Ausrufe der Überraschung hervor. »Und Ihr glaubt, Alcuin war der Täter und hat sein Heil in der Flucht gesucht?« erkundigte Eugenius sich seidenweich. »Nein. Alcuin ist kein Mörder. Ich habe Angst um ihn. Ihr bezichtigt ihn des Mordes und der Flucht, Eugenius. Woher wissen wir, daß er überhaupt noch lebt?«

»Das ist doch lächerlich!« erwiderte Eugenius schroff. »Weshalb sollte irgend jemand Bruno töten, und was bringt Euch auf den Gedanken, Alcuin sei tot?«

»Ich weiß es nicht, aber seit das Generalkapitel zusammengetreten ist, spüre ich eine Atmosphäre von Intrige und Boshaftigkeit, die diesem heiligen Gemäuer nicht entspricht.«

»Was schlagt Ihr also vor?« fragte Bruder Henry. »Ich habe Sir John Cranston, den Coroner der City, um seine Dienste gebeten.«

»Aber er ist ein Laie, ein Beamter der Krone! Er hat keine Autorität in diesem Kloster«, stellte William de Conches fest. »Er hat die Autorität des Königs.« Callixtus meldete sich in scharfem Ton zu Wort und schaute den Prior mit seinen müden Augen an. »Ich vermute, Pater, er wird nicht allein kommen.«

Jetzt strahlte der Prior vor Zufriedenheit. »Callixtus, du hast meine Gedanken gelesen. Nein, Sir John wird nicht allein kommen. Ich werde seinen Sekretär und Schreiber, Bruder Athelstan, ein Mitglied dieses Ordens und Gemeindepfarrer von St. Erconwald in Southwark, bitten, ihm behilflich zu sein.«