»Die werden bald müde werden«, sagte Athelstan leise zu Bonaventura. Er stand vor seinem Haus und betrachtete die lange Reihe der hoffnungsvollen Pilger, die vor der Kirche Schlange standen, um einen Blick auf das Skelett zu werfen, vor dem großen Holzsarg eine Kerze anzuzünden und ein Gebet zu sprechen. Athelstan hatte beschlossen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Die Arbeiter im Chor durften weitermachen, und er war sicher, daß Cranston mit neuen Erkenntnissen kommen würde, die den Fall ein für allemal klären würden.
Aber am frühen Nachmittag war Athelstans Optimismus verflogen. Von weiteren Heilungen wurde gemunkelt; ein Kind mit Warzen behauptete, sein ekelhaftes Leiden sei verschwunden. Ein saurer Magen war beruhigt, Lendenschmerzen verflogen, und eine lange Liste von Leiden verging, nachdem der Betroffene vor dem Sarg gebetet hatte. Master Bladdersniff und die anderen Büttel kamen, um sich zu beschweren, aber Athelstan konnte nur lautstark seinem Mißvergnügen über die Vorgänge Luft machen und erklären, ihm sei die Sache aus der Hand genommen. Dann schloß er sich in seinem Haus ein.
Die Nachricht von dem wunderbaren Fund in St. Erconwald lockte all die menschlichen Bussarde und Windvögel an, die sich in Southwark herumtrieben: die Fälscher, die »ehrbaren Männer«, die Kesselflicker und die Höker, die mit religiösen Gegenständen handelten. Sie sammelten sich wie Fliegen auf einem Misthaufen. Ein Gauner mit Augenklappe und einem angeblich lahmen Bein hinkte in die Kirche, und als er herauskam, warf er seine Krücke beiseite, behauptete, er sei geheilt, und wollte die Krücke als gesegneten Gegenstand verkaufen. Er stand vor Athelstans Haus und brüllte einer Schar von Zuschauern zu, für einen Shilling sei dieses heilige Holz, das ihn nach Jerusalem und zurück getragen habe, zu erwerben. Im Haus verzog Athelstan unangenehm berührt das Gesicht. Da erklang eine zweite, durchdringendere Stimme von der Kirche her.
»Ich bringe Ablässe aus Rom! Vom Stellvertreter Christi selbst in Avignon! Wenn ihr dieses Pergament kauft, das beschrieben wurde mit Tinte aus einem Faß, hergestellt aus dem Holz der Krippe unseres Jesuskindes, dann werden euch - gegen ein gewisses Entgelt - alle eure Sünden vergeben werden, und ihr werdet eintausend Tage und Nächte weniger im Fegefeuer schmoren.«
Athelstan saß da und stützte den Kopf auf beide Hände; jetzt konnte er es nicht mehr ertragen. Er entriegelte die Tür, riß sie auf und stapfte hinaus. Er packte die hölzerne Krücke des »ehrenwerten Mannes« und schlug sie ihm über den Rücken, daß es laut klatschte.
»Im Namen Gottes, verschwinde!« schrie er. »Kennst du nicht den Vers: ›Dies ist das Haus Gottes und das Tor zum Himmel‹? Und kein schäbiger Marktstand in der Cheapside!« Der Kerl stolperte, und seine Hand fuhr zum Messer an seinem Gürtel. Athelstan hielt die Krücke in beiden Händen und kam drohend näher.
»Nur zu, du kleiner Pißköttel!« schrie er und bediente sich unverbrämt des Cranstonschen Vokabulars. »Zieh deinen Dolch, und ich schlage dir deinen verdammten Schädel von den Schultern!« Wütend deutete der Priester auf die kleine Zuschauerschar. »Das hier sind ehrliche Menschen. Sie verdienen ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts!« Der Kerl warf Athelstan einen vorwurfsvollen Blick zu und machte sich schnell davon. Schwer atmend lehnte der Priester sich auf die Krücke.
»Tut mir leid«, sagte er zu den erschrockenen Zuschauern. »Geht jetzt nach Hause. Kümmert euch um eure Frauen, eure Männer, eure Kinder. Behaltet euer Geld. Geht und liebet eure Nächsten, und ihr werdet Gott finden - nicht bei diesem peinlichen Mummenschanz der billigen Gaukelei!«
»Ein Ablaß!« schrie die durchdringende Stimme plötzlich. »Ein Ablaß für eure Sünden! Die Himmelspforte lockt!« Athelstan richtete sich auf und funkelte den Ablaßhändler an, der mit dem Rücken zu ihm auf der Kirchentreppe stand. Ohne nachzudenken, ging Athelstan hinüber und rammte dem Mann das Ende der Krücke so wütend ins Kreuz, daß der die Treppe hinunterstolperte und unten auf allen vieren landete. Dort drehte er sich um; sein gelbes Gesicht war eine Maske des Hasses, er bleckte schwarze Zähne, und seine Augen waren schmal vor Wut. Der Priester hockte sich oben an der Treppe nieder.
»Ich werde jetzt die Augen schließen«, sagte er leise, »und ein Ave Maria sprechen. Wenn ich bei den Worten ›Jetzt und in der Stunde unseres Todes‹ angekommen bin, werde ich die Augen wieder öffnen. Und wenn du dann noch hier bist, dann werde ich dich grün und blau prügeln und auf einen Misthaufen werfen.«
Athelstan war noch nicht bei »Heilige Maria« angekommen, als er mit einem halbgeöffneten Auge sah, daß der Ablaßhändler davonrannte wie ein Hase. Athelstan richtete sich auf und starrte Watkin und Pike an, die in der Kirchentür standen. »Wenn ihr so etwas noch einmal zulaßt«, sagte er leise, »dann mögt ihr weiterhin meine Pfarrkinder sein, aber meine Freunde seid ihr nicht mehr.«
Langsam kehrte er zu seinem Haus zurück, schloß die Tür und legte sich auf das Bett. »Wenn es einen Gott im Himmel gibt«, sagte er leise, »dann wird die Wahrheit doch sicher herauskommen, oder?«
*
Am nächsten Morgen war es um St. Erconwald ein bißchen stiller, nachdem Athelstan am Tag zuvor dermaßen aus der Haut gefahren war. Die Wahrheit kam nicht, wohl aber Cranston und der Pater Prior. Athelstan hatte soeben an seinem Behelfsaltar die Messe gelesen, sich davon überzeugt, daß die Arbeiter gut vorankamen, Philomel gefüttert war, und nahm zum Frühstück soeben seine letzte Schale Suppe und einen Becher verdünnten Wein zu sich, als Cranston an die Tür hämmerte und sofort hereingerauscht kam wie der Heilige Geist.
»Morgen, Mönch!« donnerte er, und hielt in der einen Hand seinen wunderbaren Weinschlauch. Unaufgefordert füllte er Athelstans Becher, nahm einen großzügigen Schluck, rülpste und bat den lächelnden Pater Prior einzutreten. Athelstan stand auf.
»Guten Morgen, Pater. Wollt Ihr Sir John und mir trotz der frühen Stunde bei einem Glas Wein Gesellschaft leisten?« Prior Anselm lächelte Cranston bewundernd an. »Warum nicht?« sagte er leise. »Wahrlich sagt ja der Psalmist, der Wein erfreut des Menschen Herz, und der heilige Paulus schreibt in seinem Brief an Timotheus: ›Trinke etwas Wein für den Magen.«‹
Cranston rülpste wieder und strahlte den Prior an. »Ist das wahr?« rief er. »Natürlich, Sir John.«
»In diesem Fall«, erklärte Cranston, »ist der heilige Paulus mein Lieblingsheiliger. Das muß ich Lady Maude erzählen. Der Brief an Unsere Liebe Frau?«
»Nein, Sir John«, sagte Athelstan. »Der Brief an Timotheus. Pater Prior, setzt Euch doch. Ihr, Sir John - einen Becher aus der Speisekammer?«
Sie ließen sich nieder; Cranston strahlte, und Pater Prior nippte behutsam an seinem Zinnbecher. Athelstan rieb sich das Gesicht.
»Du siehst müde aus, Mönch«, stellte Cranston fest. Athelstan deutete auf die Tür. »Ihr kennt den Grund, Sir John. Das verfluchte Skelett und, was noch schlimmer ist, die verfluchte Dummheit der Pfarrkinder: Sie sind so leichtgläubig, daß man ihnen Schwarz für Weiß verkaufen könnte, wenn man seine Worte nur mit dem richtigen Honig beträufelte.«
»Ja, davon habe ich gehört«, sagte der Pater Prior. Sir John rutschte auf seinem Schemel hin und her. »Ich tue ja, was ich kann!« beteuerte er. »Ich habe Schreiber, die in den Akten stöbern, und Büttel, die im Dreck von Whitechapel den Aufenthalt von Master Fitzwolfe herauszufinden suchen, aber bis jetzt - nichts.« Er trank aus seinem Weinschlauch. »Und die scharlachrote Kammer?« fragte er mit schmalen Augen.
»Nichts, Sir John, überhaupt nichts.«
»Die scharlachrote Kammer?« fragte der Prior.
Cranston lachte gezwungen. »Ein kleiner Scherz zwischen uns, Pater Prior. Ein Rätsel, das dieser gute Priester hier und