»Er meinte, Mönch …« Cranston schmatzte und klappte die Augen auf.
Die Dominikaner zuckten zusammen, als der Coroner vollends erwachte, sich reckte und scharf in die Runde spähte, ob jemand über ihn lachte.
»Er meinte«, wiederholte er dann, »daß es zwei Mönche gab« - er grinste -, »Verzeihung, zwei Ordensbrüder, die das Generalkapitel für Zeitverschwendung hielten. Jetzt ist der eine tot und der andere verschwunden. Habe ich recht, Pater Prior?«
Anselm nickte rasch. Cranston hielt einen dicken Finger hoch.
»Ich habe nicht Logik studiert, erinnere mich aber stets an das alte Sprichwort: ›Wenn ein Hund die Augen schließt, muß er deshalb noch lange nicht schlafen.‹ Ich bin Sir John Cranston, Coroner des Königs in dieser Stadt. Auch wenn ich schlafe, bin ich wach.«
Athelstan stöhnte. Er wünschte, Cranston würde jetzt nicht sein Possenspiel vom Trunkenbold veranstalten. »Pater Prior«, sagte er hastig, »was, glaubt Ihr, haben Alcuin und Callixtus gemeint, als sie sagten, der Großinquisitor verschwende hier seine Zeit?«
»Das weiß ich nicht. Die beiden standen ständig tuschelnd in den Ecken; und Callixtus suchte in der Bibliothek nach irgendeinem Manuskript.«
»Und der andere«, unterbrach Cranston grob und funkelte Athelstan an. »Ihr wißt schon, der Alte, der als erster gestorben ist - Bruno. Hatte er etwas mit dem Generalkapitel zu tun?«
»Nein«, antwortete Eugenius. »Aber Alcuin behauptete aus irgendeinem merkwürdigen Grund immer, er habe genau um die Zeit in die Krypta gehen wollen, als Bruno dort stolperte und fiel.« Eugenius verzog das Gesicht. »Ich überlasse es Euch, Athelstan, nun Eure Schlüsse zu ziehen, was er damit gemeint haben könnte.«
Athelstan notierte sich, was bis dahin berichtet worden war; dann legte er seine Feder hin, stand auf und blieb vor Bruder Roger stehen, der sich duckte wie ein verängstigter Hase und den Großinquisitor nicht aus den Augen ließ. Athelstan ergriff die Hand des Schwachsinnigen. »Bruder Roger«, sagte er leise, »was möchtest du dem Pater Prior erzählen?«
Roger klapperte heftig mit den Lidern und leckte sich die Lippen, so daß seine Zunge zu groß für seinen Mund zu sein schien. Speichel rann ihm über das Stoppelkinn, und der Subsakristan rieb sich mit schmutzigen Fingern den Schädel. »Ich habe in der Kirche etwas gesehen«, sagte er. »Aber ich weiß nicht mehr, was es war - nur, daß es zwölf hätten sein müssen. Oder dreizehn?« Er grinste Athelstan ausdruckslos an. »Ich weiß es nicht. Bruder Roger vergißt so schnell.«
Athelstan richtete sich kopfschüttelnd auf. »Pater Prior, gibt es noch etwas, das wir wissen müssen? Weiß sonst jemand noch mehr über diese geheimnisvollen Ereignisse?«
Eine Mauer des Schweigens beantwortete diese Frage. »Wenn das so ist, Pater Prior, würden Sir John und ich uns gern zurückziehen. Wir haben doch ein Zimmer hier?«
»Ja, der Diener wird euch hinaufführen. Sir John und du, ihr werdet in unserem Gästehaus wohnen.« Athelstan biß sich auf die Lippen. Er wußte, daß Sir John in Blackfriars bleiben wollte, um vor Lady Maudes spitzer Zunge sicher zu sein, aber der Gedanke, mit ihm eine Kammer zu teilen, mißfiel ihm. Er war ein paarmal mit Cranston auf Reisen gewesen, und er wußte, daß der Coroner sehr gesprächig werden konnte, zumal nach einem guten Essen und einigen Bechern vom spanischen Weißen. »Wir haben Eure Erlaubnis, im Kloster umherzugehen und uns anzusehen, was wir wollen?«
»Selbstverständlich.«
Die Sitzung war beendet. Bruder Roger rannte fast aus dem Zimmer. Die Brüder Niall und Peter nickten Athelstan lächelnd zu. Bruder Henry murmelte, er sei erfreut, ihn hier zu sehen, aber die beiden Inquisitoren ignorierten ihn. Prior Anselm überantwortete Athelstan und Cranston dem Laienbruder, der sie zum Hauptgebäude hinaus und um die Kirche herum zu einem kleinen Gästehaus mit Blick auf den Obstgarten führte. Im Erdgeschoß verfügte es über eine eigene Küche samt Speisekammer, und in einer geräumigen Kammer darüber gab es zwei Betten, eine Truhe, einen Betstuhl, einen Tisch am verglasten Fenster, einen Stuhl, mehrere Schemel und an den Wänden etliche Haken für ihre Kleider. Das Zimmer war sauber und gut gefegt. Frische, mit Kräutern vermischte Binsen bedeckten den Küchenboden; die Wände der Schlafkammer zierten wollene Tücher, und auf dem Boden lag ein Teppich aus reiner Wolle, der auf eine rauhe Unterlage genäht worden war.
»Pater Prior sagt, Ihr könnt zum Essen zu uns ins Refektorium kommen, wenn Ihr wollt«, sagte der junge Diener. »Ihr könnt aber auch selbst kochen oder Euch etwas aus der Küche bringen lassen.«
»Wer würde das Essen bringen?« fragte Athelstan. »Ich«, antwortete der junge Bursche. »Mein Name ist Norbert. Ich bin im Noviziat und bereite mich auf die letzten Gelübde vor.«
Athelstan musterte Norberts glattes Gesicht und die klaren braunen Augen. Er sah aus, als könne man ihm vertrauen. »Du hast nichts zu tun mit dem Generalkapitel?« fragte Athelstan.
»O nein, Bruder Athelstan. Zu groß für mich.«
»Dann bringst du uns das Essen aus dem Refektorium herüber«, sagte Athelstan und klopfte ihm auf die Schulter. »Und jetzt sei ein braver Bursche und sieh nach unseren Pferden im Stall. Philomel, das alte Schlachtroß, frißt, bis es platzt.« Er warf einen listigen Blick auf Cranston. »Und er ist nicht der einzige. Mylord Coroner ist ein Mann mit wunderbarem Appetit. Sieh zu, daß sein Tablett gut gefüllt ist.« Norbert entblößte grinsend seine Zahnlücken. »Und dieser Met«, meldete sich Cranston zu Wort und schob die Daumen hinter seinen Gürtel. »Wie ich höre, ist er sehr gut für die Gurgel.«
»Pater Prior hat bereits ein Fäßchen für Euch dagelassen, Sir John. In der Speisekammer sind auch Krüge mit Wein und ein kleines Faß Bier.«
»Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!« brummte Cranston. Athelstan wartete, bis der junge Diener gegangen war, und ließ sich dann auf einen Stuhl fallen.
»Sir John, was haben wir nun hier?« Er breitete Pergament und Federn auf dem Tisch aus. »Zunächst einmal ein Generalkapitel, das einberufen worden ist, um theologische Fragen zu erörtern. Bruder Henry verteidigt seine Thesen gegen die Brüder Peter und Niall. Die Inquisitoren sind dabei, um Ketzerei aufzuspüren. Zwei andere Dominikaner, Alcuin und Callixtus, machen merkwürdige Bemerkungen darüber, daß das Generalkapitel Zeitverschwendung sei. Callixtus stürzt in der Bibliothek von einer Leiter, und Alcuin verschwindet. Man erzählt sich, obwohl Bruder Bruno nichts mit dem Generalkapitel zu schaffen gehabt habe, sei er just zu der Zeit die Treppe zur Krypta hinuntergestürzt, als Alcuin hätte dort sein sollen. Bruder Roger, ein Schwachsinniger, behauptet, in der Kirche stimme etwas nicht, und redet von zwölf oder dreizehn. Nun, Sir John, was meint Ihr dazu?« Lautes Schnarchen beantwortete seine Aufzählung. Athelstan drehte sich um. Cranston saß in dem einzigen hochlehnigen Stuhl vor dem kleinen Feuer, schlief fest und lächelte und schmatzte. Seufzend ging Athelstan, um es ihm bequemer zu machen; er legte Holz nach und kehrte dann zurück zu seinen Notizen. Eine Stunde lang saß er da und bemühte sich, Sinn in das zu bringen, was man ihm erzählt hatte; derweil schnarchte Cranston, und Athelstan hörte mit halbem Ohr, wie die Klosterglocke läutete und die Brüder zur Andacht rief. Die Sonne ging unter. Cranston schrak aus dem Schlaf hoch; er klopfte sich auf den Bauch, ging erst zum Abort und dann in die Speisekammer, um sich einen Krug Met zu holen.
»Nicht jetzt, Sir John«, sagte Athelstan, der ihm gefolgt war. »Wir haben zu arbeiten.«
Cranstons Gesicht war der Inbegriff von Selbstmitleid. »Bruder, ich habe Durst.«
»Sir John, wir haben zu arbeiten.«
»Was denn?«
»Sir John, Ihr seid der Coroner. Ihr besichtigt den Schauplatz dieser Verbrechen, und je eher wir die Geheimnisse aufgeklärt haben«, fügte er hoffnungsvoll hinzu, »desto eher können wir auch das Rätsel der scharlachroten Kammer lösen.« Cranston stellte den Krug hin und grinste. »Bruder Athelstan, ich bin ganz Ohr.«