Sie gingen zurück zum Kreuzgang. Athelstan erinnerte sich verschwommen, daß die Krypta von einem kleinen Gang an der Nordseite der Kirche abging. In dem Garten innerhalb des Kreuzgangs war es still; nur Bienen umsummten die Blumen am plätschernden Springbrunnen. Die kleinen Pulte, an denen die Brüder kopierten und schrieben, waren beiseite geschoben. Athelstan dachte an die langen Stunden, die er hier zugebracht und das Tageslicht benutzt hatte, um einen gelehrten Traktat abzuschreiben. Er blieb stehen. Bruder Callixtus war sein Mentor gewesen, und Alcuin hatte immer einen Hang zu theologischen Schriften gehabt. Hatten sie etwas gesehen oder einen Traktat studiert, der etwas mit dem Generalkapitel zu tun hatte? Athelstan starrte den kleinen Springbrunnen an. Die Bibliothek von Blackfriars war berühmt; sie enthielt Manuskripte aus ganz Westeuropa, und nicht nur die Schriften seines Ordens, sondern auch die der alten Philosophen sowie anderer Theologen. »Komm schon, Athelstan«, drängte Cranston und deutete auf die große, eisenbewehrte Tür. »Die Geheimnisse der Krypta erwarten uns.«
Athelstan nickte und stieß die Tür auf. »Eine steile Treppe«, murmelte er. »Sie verschwindet nach unten in der Dunkelheit. Früher dachte ich immer, dies sei der Eingang zur Hölle.« Er zeigte auf eine Fackel im Halter neben dem Eingang. »Ihr habt Feuer dabei, Sir John. Zündet sie an.«
Der Coroner tat es, und die harzgetränkte Fackel erwachte blakend zum Leben.
»Macht das noch einmal, Sir John«, bat Athelstan und schloß die Kryptatür hinter ihnen.
Sir John machte ein verwirrtes Gesicht. »Um Gottes willen, Bruder, die Fackel brennt doch schon.«
»Nein, macht es noch einmal! Wiederholt die Bewegung!« Cranston gehorchte widerstrebend. »Was ist denn los, Bruder?«
»Nun, wir wollen versuchen, uns vorzustellen, was Bruder Bruno getan haben mag. Seht, Sir John, die oberste Stufe ist breit und sicher. Wenn man die Tür hinter sich schließt, hängt die Fackel daneben an der Wand. Bruder Bruno dürfte sich umgedreht haben wie Ihr, um diese Fackel anzuzünden. Nun ist die oberste Stufe, wie gesagt, breit genug, daß jemand Platz hätte, hinter der Tür zu warten. Bruno kommt herein und dreht sich um. Wie Ihr, müßte er fast das Gleichgewicht verlieren, wenn er sich reckt, um die Fackel anzuzünden.«
»Du willst also sagen«, unterbrach Cranston, »daß jemand hier im Dunkeln lauerte und dem alten Mann einen heftigen Stoß gab, weil er ihn für Alcuin hielt?«
»Ja.«
Vorsichtig nahm Athelstan die Fackel aus der eisernen Halterung und hielt sie in die Schwärze, so daß die Schatten über die steile Treppe tanzten, die unter ihnen in die Tiefe führte. Er deutete auf den eisernen Handlauf.
»Als ich hier Novize war, fürchtete sich jedermann vor diesen steilen, scharfkantigen Stufen. Deshalb wurde der Handlauf angebracht. Kein Mensch, schon gar kein alter Mann, und auch nicht jemand wie Alcuin, könnte einen solchen Sturz überleben.«
»Aber nicht Alcuin wurde hier hinuntergestoßen«, bemerkte Cranston, »sondern der arme Bruno. Zugegeben, der Falsche, aber die Frage bleibt: Warum wartete hier jemand auf Alcuin? Und warum wollte Alcuin herkommen? Du hast in Blackfriars studiert, Athelstan?«
Athelstan lächelte, steckte die Fackel wieder in den eisernen Halter und öffnete die Tür. »Sehr gut beobachtet, Sir John. Ja, die Krypta wurde oft für geheime Zusammenkünfte benutzt. Ihr kennt die kleinen Streitereien und Auseinandersetzungen, die es in jeder Gemeinschaft gibt - von den verbotenen Beziehungen nicht zu reden, die zwischen Männern, die dem Zölibat verpflichtet sind, entstehen können.«
»So etwas ging hier vor sich?« Cranston schloß die Kryptatür hinter sich.
Athelstan nahm ihn behutsam beim Ellbogen und führte ihn zurück in das verblassende Sonnenlicht im Garten. »So etwas und noch merkwürdigere Dinge, Sir John, aber jetzt suchen wir einen Mörder.«
»Es könnte immer noch ein Unfall gewesen sein«, widersprach Cranston.
»Das würde von zwei Dingen abhängen. Erstens: Können wir einen Zusammenhang zwischen Alcuin und der Krypta finden? Wen wollte er dort treffen? Und zweitens: Brannte die Fackel an der Wand, als Brunos Leichnam gefunden wurde? Wenn nicht, bedeutet das, daß er gestoßen wurde, als er gerade Feuer schlug; der Mörder mußte sich beeilen, um nicht entdeckt zu werden. Er hätte dann lediglich einen Schatten gesehen. Ihm einen heftigen Stoß zu versetzen und dann zu verschwinden wäre ein Kinderspiel.« Cranston rieb sich den verkrampften Nacken, und ihn fröstelte. So ruhig, so friedlich, dachte er; Blackfriars war ganz anders als die Stadt, mit seinen weißgekälkten Mauern, sauberen Wegen, blumenreichen Gärten, plätschernden Springbrunnen und den melodiösen Stimmen, die das Lob Gottes sangen. Und doch herrschten hier die gleichen Gefühle wie in den Gassen der Cheapside, und sie waren ebenso stark: Wollust, Neid, Eifersucht, Habgier. Und sogar Mord. Sie traten beiseite, als die Kirchentür sich öffnete und die Mönche herauskamen, die Hände in den weiten Ärmeln ihrer Kutten verborgen, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, und schweigend in langer Reihe zum Refektorium zurückgingen. Cranston hob den Kopf wie ein Jagdhund und schnupperte in den Wind. Dann klopfte er sich auf den Bauch und leckte sich die Lippen.
»Essen«, murmelte er. »Hirschbraten, Bruder. Frisch, zart und mit Rosmarin gewürzt.«
»Später, Sir John.«
Athelstan hielt ihn am Handgelenk fest und wartete, bis die Mönche vorbeigezogen waren, ehe er Cranston in die Kirche schob. Noch spielte ein Rest Sonnenlicht in den bunten Glasfenstern und erfüllte die Dunkelheit mit blassen Lichtstreifen. Die Weihrauchwolken aus dem Chor wehten ins Kirchenschiff herunter wie Parfüm. Athelstan empfand die heilige Stille, als sei sogar die Luft durch den Gesang der Brüder geweiht.
Sie gingen durch das Kirchenschiff und unter dem prachtvoll geschnitzten Lettner hindurch in den Chor. Athelstan schaute sich um und bestaunte die Schönheit des vielfarbigen Marmorbodens, der Alabasterstufen, des großen, aus kostbarstem Marmor gehauenen Hochaltars und der Säulen, deren Simse mit dickem Blattgold überzogen waren. Kerzenhalter aus massivem Silber standen auf dem weißseidenen Altartuch. Hoch oben in der Wand strahlte eine zierliche Fensterrosette im Licht der sinkenden Sonne. Athelstan betrachtete die wuchtigen geschnitzten Bänke zu beiden Seiten des Chors, wo die Brüder sich zum Gottesdienst versammelten. Er dachte an die Tage, da er selbst hier im Halbschlaf gestanden und zur Morgenandacht die Psalmen gesungen hatte. Über dem Altar hing ein schweres schwarzes Kreuz an Ketten aus purem Gold von den Deckenbalken herunter. In der Apsis hinter dem Altar und unter dem Rosettenfenster waren Nischen eingemeißelt, und in einigen standen lebensgroße Apostelstatuen.
»Das ist nicht St. Erconwald«, stellte Cranston leise fest und bestaunte die stille Schönheit des Chores. »Ein Gedicht aus Stein und Marmor«, fügte er hinzu. »Aber ob Alcuin hier gestorben ist?«
Athelstan blinzelte, als habe er im stillen Frieden dieser Kirche ganz vergessen, weshalb er eigentlich hier war. »Wie viele Eingänge gibt es?« fragte Cranston schroff. »Nur zwei«, sagte Athelstan. »Der, durch den wir gekommen sind« - er deutete auf das Hauptportal - »und einen im Chor.«
»Und keine Falltüren oder Geheimgänge?«
»Nichts dergleichen. Und Pater Prior sagt, beide Türen waren verschlossen. Alcuin wollte offenbar allein sein.«
»Und wo könnte er hingegangen sein?« Athelstan winkte und führte ihn um den Hochaltar herum. Dahinter lag ein scharlachroter Teppich, und auf jeder der vier Ecken stand ein kräftiger Holzpfeiler. »Wozu dienen die?« fragte Cranston.
»Wenn ein Bruder stirbt, wird der Sarg auf diesem Pfeiler auf dem roten Teppich gestellt«, erklärte Athelstan. »Der Leichnam muß einen Tag und eine Nacht am Altar ruhen. Dann wird die Requiemmesse gesungen.« Athelstan tappte mit dem Fuß auf den Boden. »Dann wird der Sarg in das große Gewölbe darunter versenkt.«