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»Könnte Alcuin in dieses Gewölbe geworfen worden sein?«

»Das bezweifle ich. Bedenkt, daß man ja Brunos Sarg hinabgelassen hat. Unsere Laienbrüder sind vielleicht nicht die allerhellsten Köpfe, aber es wäre ihnen sicher aufgefallen, wenn da die Leiche eines ihrer Brüder gelegen hätte.« Athelstan zeigte auf den Betstuhl, sah sich um und betrachtete die lebensgroßen Statuen in ihren Nischen. »Hier wurde Alcuin das letzte Mal lebend gesehen«, sagte er. »Pater Prior ist sicher, daß er in die Kirche ging. Aber was geschah dann?« Seine halb geflüsterten Worte klangen gespenstisch in der Stille, und trotz der Schönheit dieser Kirche verspürte Cranston etwas Bedrohliches.

»Ich weiß nicht, Bruder«, antwortete er. »Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich habe das Gefühl, wir stehen am Eingang zum Tal des Todes!«

SECHS

Athelstan und Cranston blieben noch eine Weile stehen und erörterten die verschiedenen Möglichkeiten, wie Alcuin verschwunden sein mochte, ehe sie in die Mitte des Chores zurückgingen.

»Ich habe Hunger«, murrte Cranston.

»Ihr habt immer Hunger. Aber Ihr müßt Euch noch etwas ansehen, bevor wir essen.«

Sir John zog einen Schmollmund wie ein kleiner Junge, der seine Süßigkeiten nicht bekommt.

»Mylord Coroner«, fügte Athelstan geduldig hinzu, »Ihr seid hierher gerufen worden, um zu ermitteln. Und was tut ein Coroner?«

Cranston lehnte sich an die Wand. »Er untersucht den Leichnam«, sagte er. »Was hast du vor, Athelstan? Willst du Bruder Bruno ausgraben?«

»Nein. Aber Callixtus liegt aufgebahrt und wartet auf seine Beerdigung.«

»Na los, Athelstan«, knurrte Cranston. »Erst die Arbeit, dann das Essen.«

Sie verließen die Kirche und gingen durch den Kreuzgang zum Refektorium, wo ein alter Laienbruder Wache stand. Athelstan winkte ihn zu sich.

»Ich bitte um Entschuldigung«, wisperte er, »aber sei doch so freundlich und sag dem Pater Prior, daß Sir John Cranston Bruder Callixtus' Leichnam sehen muß.« Der Laienbruder schaute überrascht, ging aber auf Athelstans Drängen ins Refektorium. Athelstan blieb in der halboffenen Tür stehen und sah, wie das Kerzenlicht die Schatten flackern ließ. Er hörte, wie der Lektor aus dem Leben der Heiligen vorlas, während die restliche Gemeinschaft schweigend aß; nur das Klappern der Töpfe und das Tappen sandalenbeschuhter Füße unterbrach die friedliche Stille. Der Laienbruder kam zurück.

»Pater Prior ist einverstanden«, gab er bekannt. »Bruder Callixtus liegt in der Krankenstube, und ich soll Euch hinbringen.«

Die Krankenstube befand sich etwas abseits von den übrigen Gebäuden. Ein Bruder mit weißer Schürze über der Kutte begrüßte sie und führte sie zur Rückseite des Hauses, wo ein kleiner, mit Kalk ausgestreuter Raum als Leichenkammer diente.

»Wir haben getan, was wir konnten«, sagte der Krankenbruder. »Am Samstag wird Bruder Callixtus beerdigt.« Er winkte sie zu dem einsamen Tisch, den ein weißes, purpurgesäumtes Leichentuch bedeckte. Athelstan schlug das Laken zurück. Callixtus' Leib war gewaschen und in die Kutte eines Dominikanermönchs gehüllt worden, aber die Todesursache war doch offenkundig. Sein schmales, säuerliches Gesicht war von blauschwarzen Blutergüssen bedeckt. Athelstan betrachtete die verkniffenen Züge. Schon war die Nase spitz geworden, die Wangen eingefallen und die Augen in die Höhlen zurückgesunken. Mitgefühl wallte auf, als er sich an Callixtus in der Blüte seiner Jahre erinnerte, an seinen scharfen Verstand und seinen spöttischen Humor. Aufmerksam untersuchte er die klaffende Wunde an der Schläfe des toten Bruders. Der Einbalsamierer hatte sein Bestes getan, aber Athelstan sah, wie tief die Wunde war, scharfkantig und breit wie eine Ackerfurche.

»Bruder!« rief er. »Hast du den Toten aus der Bibliothek geholt?«

»Ja.«

»Und war er mit dem Kopf auf die Steine oder auf einen scharfkantigen Gegenstand geschlagen?«

»Er lag einfach auf dem Boden.«

»Was hast du denn gefunden?« Cranston kam näher. Ihm war ein bißchen flau; sein Magen war leer, und er rümpfte die Nase ob des sauren Geruchs hier im Raum. »Seht doch, Sir John. Bruder Callixtus hat sich bei seinem Sturz Gesicht und Kopf blaugeschlagen, aber ich vermute, die tödliche Verletzung ist das hier.« Er deutete auf die tiefen Wunden an Callixtus' Schläfe und schlug dann das Tuch wieder über den Leichnam. »Ich will damit sagen«, flüsterte er, »daß Callixtus abgestürzt ist, aber danach mit etwas Scharfkantigem geschlagen wurde. Ach« - Athelstan wandte sich an den Krankenbruder —, »als du Bruder Brunos Leiche aus der Krypta holtest, brannte da die Fackel?«

»Natürlich, sonst herrscht da nachtschwarze Finsternis. Alcuin hatte den Toten entdeckt. Ah!« Der Krankenbruder hob rasch die Hand an den Mund. »Ja, ich fand das merkwürdig.«

»Was?«

»Alcuin entdeckte den Toten, aber erst, nachdem er selbst die Fackel angezündet hatte. Ich entsinne mich, daß er das erwähnte.« Der Bruder legte das Gesicht ratlos in Falten. »Wieso ist Bruno bloß in diesem finsteren, schwarzen Loch herumgestolpert?«

»Diese Frage kann nur Alcuin beantworten«, erwiderte Cranston knapp. Er schaute Athelstan an. »Also birgt ein Mann, der jetzt verschwunden ist, das Geheimnis von Brunos Tod.«

Sie bedankten sich bei dem Krankenbruder. Athelstan bat den Laienbruder, sie zur Bibliothek zu führen, und ließ dort, allen Protesten des Mannes zum Trotz, sämtliche Kerzen anzünden. Dann ging er zu der hohen, schmalen Leiter, die an den dunklen Regalen lehnte. Er bemühte sich, Cranstons bewunderndes Gemurmel zu ignorieren; dieser Raum barg süße Erinnerungen für Athelstan. Hier an diesen Tischen in einer der schönsten Bibliotheken des Reiches hatte er als junger Mönch studiert. Der satte Geruch von Leder und der süße Duft frisch getrockneter Manuskripte ließen tiefe Wehmut in ihm wach werden, und plötzlich hatte er einen Kloß in der Kehle. Aber hier hatte er auch den Entschluß gefaßt, das Kloster zu verlassen und mit seinem Bruder nach Frankreich in den Krieg des Königs zu ziehen. Hastig schaute er sich um. Waren die Geister hier? Der Geist seines Bruders oder die seiner Eltern, die später an gebrochenem Herzen gestorben waren? Athelstan blinzelte heftig und packte die Leiter.

»Seht Ihr, Sir John, Callixtus ist hier hinaufgestiegen. Er rutschte ab und fiel.« Athelstan deutete auf den Boden. »Die Steinplatten sind eben, und es gibt nirgends eine scharfe Kante. Sir John, würdet Ihr dem Laienbruder helfen, alle Kerzenleuchter zusammenzutragen?«

»Wieso?« wollte Cranston wissen. »Bruder, was um alles in der Welt hast du vor?«

Athelstan hielt einen Finger hoch. »Denkt nach und überlegt. Ich wende die Lektion an, die Ihr mich gelehrt habt. Callixtus' Kopf zerschmetterte an einem scharfkantigen Gegenstand. Von den Kanten der Tische und Stühle abgesehen, sind die einzigen scharfkantigen Gegenstände in dieser Bibliothek die Kerzenleuchter.«

Sir John zuckte die Achseln und half dem Laienbruder, sämtliche Kerzenhalter in die Mitte eines langen Studiertisches zu stellen. »Er könnte auf die Tischkante aufgeschlagen sein«, gab er zu bedenken.

Athelstan stand neben der Leiter und schüttelte den Kopf. »Unsinn, Sir John. Die Regale stehen auf der einen Seite des Scriptoriums, die Tische auf der anderen. Wenn Ihr hier oben von der Leiter fallt, schlagt Ihr auf dem Steinboden auf.« Athelstan grinste. »Das könnten wir jederzeit ausprobieren.«

»Diese Leiter trägt mein Gewicht nicht«, knurrte Cranston und stellte die Kerzenleuchter dröhnend auf den Tisch. Endlich war er fertig. Athelstan ging zu einem großen Eichenholzschrank gleich neben der Scriptoriumstür. Er wühlte in den Fächern herum, schob Tintenhörner und Pergamentrollen hin und her, bis er eine kleine, hölzerne Dose gefunden hatte. Er nahm ein großes, rundes Stück Glas heraus.