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Athelstan schloß die Augen und sprach ein stummes Gebet. O ja, ich weiß, was dann passiert, dachte er. Die Leute des Bischofs werden das Skelett holen und in irgendeine Kirche überführen, oder sie werden es zerbrechen und die Teile als Reliquien verkaufen; derweil wird man die Türen von St. Erconwald für die Dauer einer Untersuchung versiegeln. Und die kann Monate dauern.

»Dieses erste Wunder«, sagte Anselm, »bist du sicher, daß es echt war?«

Athelstan verzog das Gesicht. »Ein Arzt hatte die Haut behandelt, und der Mann, ein Bürger von gutem Ruf, behauptet, sein Arm sei nun geheilt.«

Athelstan war mit seinen Gedanken woanders, als er sich von Prior Anselm verabschiedete und zum Gästehaus hinüberging; Cranston trottete hinter ihm her. Der Dominikaner packte seine Satteltasche; er dachte immer noch an das, was der Prior gesagt hatte. Unterdessen flatterte der Coroner um ihn herum wie ein gemästetes Huhn. »Wieso willst du weg, Bruder? Weshalb dorthin zurück?«

»Weil es hier im Augenblick nichts zu tun gibt, Sir John, und ich dort etwas zu erledigen habe.« Er sah Cranston scharf an. »Ich schlage vor, Sir John, daß auch Ihr nach Hause geht, zu Lady Maude. Sicher wartet sie schon auf Euch.« Cranston stöhnte wie ein auf frischer Tat ertappter unartiger Junge. »Beim Hintern einer Fee!« flüsterte er. »Wenn Domina Maude von meiner Wette erfährt, wird sie mir die Ohren abschneiden.«

Athelstan sah ihm ins Gesicht. »Früher oder später, Sir John, werdet Ihr Euch ihrem Zorn stellen müssen. Dann doch lieber früher. Kommt.«

Sie schickten nach Norbert, damit er das Gästehaus verriegelte. Sie beschlossen, nicht zu Pferde in die Stadt zurückzukehren, sondern mit einem Ruderboot von East Watergate zur London Bridge zu fahren. In der Knight Rider Street und den Gassen, die davon abgingen, herrschte kaum noch Betrieb. Lehrlinge mit schlaftrunkenen Augen machten die Verkaufsstände bereit; die anderen Bewohner schlummerten noch, ehe der neue Arbeitstag begann. In East Watergate indessen waren die Männer des Sheriffs schon mit der Hinrichtung von vier Flußpiraten beschäftigt - grauhaarige, wettergegerbte Männer, die hastig die Leitern zur wartenden Schlinge hinaufgestoßen wurden. Athelstan und Cranston schauten weg, als ein berittener Scherge den Befehl gab, die Leitern umzuwerfen, und die Piraten in der Luft baumelten und tanzten, als die Schlingen sich zuzogen. Athelstan schloß die Augen und murmelte ein Gebet für ihre Seelen. Die Hinrichtung löste bittere Erinnerungen an das gespenstische Bild aus, das er am Morgen im Obstgarten von Blackfriars gesehen hatte. Er drehte sich zur Reihe der schwarzen Galgen um, deren Arme auf den Fluß hinauswiesen. Er hörte Geschrei, als Verwandte der Flußpiraten herbeigelaufen kamen, sich mit einem Satz an die immer noch zappelnden Leiber hängten und sie grob herabzogen, bis mehrfaches scharfes Knacken anzeigte, daß ihre Hälse gebrochen waren, und die Leichen endlich bewegungslos dahingen. Die Leute des Sheriffs protestierten zwar, aber sie taten nichts, um diesen Gnadenakt zu verhindern. Die Schergen verkündeten, daß Gerechtigkeit geschehen sei, und zogen ab.

»Endlich«, seufzte Cranston, »werden wir ein Boot bekommen können.«

Die Schiffer und Bootsleute, die den Verkehr auf dem Fluß beherrschten, hatten sich in kleinen Gruppen zusammengefunden und zugesehen, wie die Männer hingerichtet wurden, die ihr Geschäft attackiert hatten. Jetzt schlenderten sie zu der Treppe an der Kaimauer zurück. Cranston mietete das schnellste, von vier Männern geruderte Boot, und bald waren sie auf der Flußmitte und glitten durch den Nebel zum Ufer von Southwark hinüber. Als sie an einem der großen Mistkähne vorbeikamen, die Berge von Müll, Tierkadavern und menschlichem Abfall in die Mitte des schnell fließenden Flusses kippten, mußten sie anhalten und Mund und Nase bedecken. Andere Silhouetten zogen vorüber: eine Barke mit Soldaten, die einen Gefangenen zum Tower brachten, ein gascognisches Weinschiff, das langsam flußaufwärts in Richtung Rotherhithe fuhr. Bei Dowgate begegnete ihnen ein großes, goldverziertes Ruderboot voll ausgelassener Leute, junge, in Seide gehüllte Höflinge mit ihren lärmenden Huren, die sich in die Stadt zurückrudern ließen, nachdem sie die Nacht hindurch in den Bordellen von Southwark gefeiert hatten.

An einem kleinen Kai am Fuße der Priorei von St. Mary Overy und den zinnenbewehrten Türmen und Mauern des Stadtpalais des Bischofs von Winchester gingen Athelstan und Cranston an Land. Cranston hatte schließlich doch beschlossen, Athelstans Rat zu befolgen und heim zu Lady Maude zu gehen, aber er bestand darauf, daß sein Gefährte ihn begleitete.

»Weißt du, Bruder, wenn du dabei bist, läßt sich der Zorn der Domina vielleicht im Zaume halten.« Athelstan nickte wohlweislich. Das wird ein Anblick werden, dachte er. Lady Maude, klein, zierlich und sanft, stand in dem Ruf, ein wildes Temperament zu haben. Sie wanderten durch ein Labyrinth von stinkenden Gassen, vorbei am Stadthaus des Abtes von Hyde und an einem kleinen Abwasserkanal entlang, wo ein gelber, klapperdürrer Hund geschäftig die Geschwüre am Bein eines Bettlers leckte. Dann erreichten sie den Platz vor der Kirche von St. Erconwald. Athelstan vergewisserte sich, daß sein Haus gut verschlossen war, und sah mit Verzweiflung, daß Ursulas Sau wieder von seinem Kohl gefressen hatte. Er nahm einen zweiten Schlüsselbund aus seiner Truhe und schloß die Kirche auf, denn die Arbeiter waren noch nicht da. Das Kirchenschiff lag immer noch voller Staub, aber die Männer waren fleißig gewesen, denn der Chor erstrahlte im Glanz weißer, ebenmäßig verlegter Steinplatten. Entzückt klatschte Athelstan in die Hände.

»Wunderschön!« rief er. »Der Lettner wird wieder aufgestellt, und dann auch der Altar. Meint Ihr, daß es gut aussehen wird, Sir John?«

Cranston hockte an einer Säule und nickte geistesabwesend. »Ein wahres Juwel«, brummte er. »Aber hast du schon gesehen, was verschwunden ist?« Athelstan kam zu ihm und schaute ins Seitenschiff. »Der Sarg!« schrie er. »Der verfluchte Sarg ist weg!«

»Keine Sorge, Pater.« Crim trat herein, gefolgt von Bonaventura mit hochgerecktem Schwanz. Der Lausbub kam tanzend auf ihn zu, und der Kater miaute erfreut, als er seinen fetten Freund, den Coroner, erblickte. Während Sir John mit dem Fuß aufstampfte und den Kater leise verfluchte, berichtete Crim, daß sein Vater den Sarg mitsamt den heiligen Gebeinen in das kleine Totenhaus auf dem Gemeindefriedhof geschafft hatte.

»Wißt Ihr, Pater, die Wachtmeister, die der Lord Coroner geschickt hat, haben die Leute verscheucht. Und Pike, der Grabenbauer, meinte, wenn schon die Kirche verschlossen sei, so sei doch das Beinhaus offen. Also haben sie den Sarg dahin gebracht.«

Athelstan schluckte seine Flüche herunter, stapfte zur Tür hinaus und über den zugewachsenen Friedhof zum Totenhaus, das an der gegenüberliegenden Mauer stand. Es war ein kleines, viereckiges Gebäude mit Strohdach und einem winzigen, mit einem Laden verschlossenen Fenster. Pike, der Grabenbauer, lag fest schlafend vor der Tür, aber Athelstan sah, daß der Strom der Pilger sich einen Trampelpfad quer über den Friedhof zu dem kleinen Schuppen gebahnt hatte. »Das wird ein Spaß werden«, murmelte er. Als er vor dem schlafenden Pike stand, holte er mit dem sandalenbeschuhten Fuß aus und trat gegen die Sohle von Pikes schwerem Stiefel, so daß der Grabenbauer erschrocken hochfuhr. Athelstan musterte seine glasigen Augen, das unrasierte Gesicht und den leeren Weinschlauch in der Hand. »Oh, Pater, guten Morgen.«

Athelstan hockte sich neben ihn. »Und was machst du hier?« fragte er zuckersüß.

Pike rieb sich die Augen und wich wachsam zurück. »Die Reliquie bewachen, Pater.«

»Und wer hat gesagt, du sollst den Sarg aus der Kirche holen?«

»Watkin. Es war seine Idee.«

»Jawohl, Pater!« rief eine Stimme hinter einem gemeißelten Grabstein. »Es war Watkin.«

Cecily, die Kurtisane, erhob sich wie eine Erscheinung; ihr Haar war zerzaust, ihr Gesicht vom Schlaf zerknittert, und sie hatte einen dicken Mantel um ihr fleckiges, scharlachrotes Kleid gewickelt.