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Athelstan sah erst sie, dann Pike an und bemühte sich, die Wut im Zaum zu halten, die in ihm hochkroch.

»Ihr wart die ganze Nacht hier? Zusammen? Dies ist ein Friedhof! Ein Gottesacker!« Er richtete sich auf. »Kennst du die Bibel nicht, Pike? Dies ist das Haus Gottes, und keine Abdeckerei!«

Athelstan ging zur Tür des Beinhauses. »Ich schließe auf, Pater.«

»Hau ab!« schrie Athelstan und trat wütend unter den Türriegel.

»Oh, Pater, nicht!« heulte Cecily.

Athelstan trat noch einmal zu, und die Tür flog auf, just als Cranston auf der Flucht vor dem aufmerksamen Bonaventura über den Friedhof gelaufen kam und wissen wollte, was los sei.

Athelstan schaute sich im Totenhaus um. Der Sarg stand auf einem Tisch inmitten verblichener Blumen. Jemand hatte ein rohes Holzkreuz an die Wand gehängt, und Athelstans Wut wurde nur noch größer, als er sah, daß der Sarg entweiht worden war.

»Sie fangen an, Holzsplitter zu verkaufen!« zischte er. Er stürmte hinaus und hätte Cranston fast über den Haufen gerannt. Cecily flüchtete wie ein bunter Schmetterling auf das Friedhofstor zu, aber Pike wollte noch nicht weichen. Athelstan packte den Kerl bei seinem Wams und zog ihn an sich. »Hör zu, Pike, ich bin sehr böse über das, was ihr getan habt. Dein Vater liegt hier begraben, sein Vater und dessen Vater vor ihm, und viele andere Vorfahren unserer Pfarrei. Gute Männer, fromme Frauen, arm, aber fleißig.« Mit einer energischen Kopfbewegung deutete er hinter sich auf das Totenhaus. »Mit eigenen Händen haben sie diesen Sarg gezimmert, das Holz gekauft, einen Tischler bezahlt. Und du, Watkin, und all die anderen, ihr mißbraucht ihn zu einem lächerlichen Mummenschanz.«

Pike erschrak angesichts der ungewohnten Wut des Priesters und glotzte ihn mit offenem Maul an. Athelstan ließ ihn los.

»Paß auf, Pike: In ein paar Tagen komme ich wieder. Ich will, daß der Sarg dann wieder in der Kirche steht, das Totenhaus verschlossen ist und diese Albernheit ein Ende hat.« Er sah sich auf dem überwucherten Friedhof um. »Und Watkin kannst du ausrichten: Ich wünsche diesen Friedhof aufgeräumt zu sehen, das Gras gemäht, die Gräber gepflegt - oder ich werde ihm persönlich etwas antun, woran er sich für den Rest seines gottgegebenen Lebens erinnern wird. Hast du das verstanden?«

Pike nickte ängstlich und stapfte zur Pforte hinaus. Cranston schlug Athelstan auf die Schulter. »Gut gemacht, Bruder! Du hättest dem Mistkerl noch in den Hintern treten sollen.«

Athelstan setzte sich müde zwischen die umgestürzten Grabsteine. »Sie meinen es ja gut, Sir John. Es sind arme, einfache Leute, die hier eine Möglichkeit sehen, rasch viel Geld zu verdienen. Ich hätte nicht die Geduld verlieren dürfen.« Ein Rülpser war Cranstons Antwort.

»Crim!« rief Athelstan. »Ich weiß, daß du dich da versteckst.« Der Bengel stand da wie ein Jagdhund mit zitternden Flanken und blickte Athelstan unverwandt an. »Keine Angst.« Athelstan lächelte. »Du bist ein guter Junge, Crim. Rasch, bevor zuviel Verkehr auf der Straße ist: Lauf zu Lady Benedicta und sage ihr, sie soll sich mit Sir John und mir in der Schenke ›Zum Geschecktem treffen.« Der Junge verschwand mit weiten Sätzen wie ein Greyhound im hohen Gras. Cranston faßte Athelstan beim Arm und zog ihn sanft hoch, dann legte er dem Bruder wie ein Bär den Arm um die Schultern. Athelstan roch den Weindunst in seinem Atem und wußte gleich, daß Sir John irgendwo unter seinem voluminösen Mantel den wunderbaren Weinschlauch verwahrte.

»Für einen Pfaffen bist du ein wackerer Kerl, Athelstan. Du hast Feuer im Arsch, Stahl im Herzen und eine Zunge wie ein Rasiermesser.« Er grinste boshaft und umarmte Athelstan wie eine Schraubzwinge. »Wenn du kein Mönch wärst, dann wärst du ein guter Lehrling für das Amt des Coroners.«

»Ihr seid ja guter Dinge, Sir John.«

»Mir ist auch schon wohler«, antwortete Cranston. »Ein Krug Ale und die Anwesenheit der schönen Benedicta. Was kann man sich mehr wünschen?«

»Und Lady Maude?« fragte Athelstan.

Cranston machte ein langes Gesicht. »Bei den Eiern des Satans, Bruder! Jag mir keinen solchen Schrecken ein!« Sie erreichten die Schenke und ließen sich an einem Tisch nieder. Cranston war bei seinem zweiten Humpen Ale und zerriß mit dicken Fingern das weiße, saftige Fleisch einer kleinen Wachtel, als Benedicta hereinkam. Der Coroner brüllte nach einem Becher Kräuterwein, lud sie ein, auf seinem Knie Platz zu nehmen, und brüllte vor Lachen über die widerborstige Antwort der Frau, derweil er Athelstan aus dem Augenwinkel boshaft anzwinkerte. Er wußte, der Priester war ein guter und frommer Mann, aber seine Schwäche für diese Frau faszinierte Cranston. Es war die einzige Gelegenheit, bei der Athelstan je nervös wurde, diese ersten paar Augenblicke einer Begegnung mit Benedicta, und auch jetzt war das so. Der Bruder umsorgte die Frau wie ein liebeskranker Knabe und sorgte dafür, daß sie es auch bequem hatte; Benedicta, eingeschüchtert von soviel Aufmerksamkeit, murmelte, sie fühle sich sehr wohl. Athelstan sah, daß es tatsächlich so war: Sie hatte den angespannten, bangen Blick verloren, ihr schwarzglänzendes Haar unter dem zarten weißen Schleier war duftig, und er bewunderte ihr enganliegendes Kleid aus rosaroter Atlasseide, das am Hals von einer herzförmigen Brosche verschlossen wurde. Benedicta zwinkerte Cranston zu und warf Athelstan einen Blick zu.

»Ihr wart an der Kirche, Pater?«

»Ja, und ich habe Pike ordentlich die Meinung gesagt. Cecily hat Reißaus genommen, bevor ich auch ihr ein paar Wahrheiten verpassen konnte. Benedicta, ich hatte dir doch die Verantwortung übertragen.«

Die Frau hob anmutig die Schultern. »Ihr kennt doch Watkin, Pater. Er hat ein Maul wie eine Trompete. Zumindest habe ich sie aus der Kirche heraushalten können. Was hätte ich tun sollen?« fragte sie unschuldig. »Mich zu Cecily auf den Friedhof legen?«

Cranston brüllte vor Lachen, und Athelstan lächelte. »Gibt es schon Antwort auf den Brief?« fragte sie hoffnungsvoll.

Cranston bedeckte ihre zierliche Hand mit seiner mächtigen Pranke. »Keine Angst«, vertraute er ihr sanft rülpsend an, »ich habe den schnellsten Kurier beauftragt. Er soll von Dover geradewegs nach Boulogne reiten und hat den Befehl, auf Antwort zu warten.«

Benedicta faßte einen seiner Finger und drückte ihn fest. »Sir John, Ihr seid ein Gentleman.«

Cranston packte seinen Humpen und schaute tief hinein, um seine Verlegenheit zu verbergen. »Und die Sache in Blackfriars?« fragte sie. »Mord, Mylady«, antwortete Cranston düster. »Blutiger Mord! Lautloser Tod! Aber ich habe ein paar Theorien, wie mein Schreiber Euch nachher berichten wird.« Er warf Benedicta einen mißtrauischen Blick zu; sie saß da und nagte an der Unterlippe, während Athelstan plötzlich großes Interesse an seinem Weinbecher zeigte.

»Ich möchte dich noch sprechen, Benedicta«, sagte Athelstan sanft, »bevor ich nach Blackfriars zurückkehre. Der Sarg soll in die Kirche zurückgebracht werden und dort bleiben. Heute ist Donnerstag. Am nächsten Dienstag werde ich wieder da sein, damit ich noch vor Fronleichnam die Beichte hören kann. Sag Watkin, ich wünsche, daß dann alles in Ordnung ist.«

»Und was noch?«

Athelstan lehnte sich an die Wand. »Ich habe nachgedacht über das, was der Pater Prior sagte, bevor ich Blackfriars verließ. Er sprach von dem ersten Wunder. Weißt du, ich denke, es wird Zeit, daß wir Raymond D'Arques einmal einen Besuch abstatten. Kommt.« Er stand auf, Cranston packte seinen Humpen und leerte ihn bis auf den letzten Tropfen. Athelstan deutete mit dem Kopf zur Tür. »Vielleicht lichtet sich der Nebel in mehr als einem Sinne.« D'Arques' Haus war ein zweistöckiges Gebäude an einer Straßenecke, ein Fachwerkhaus mit rotem Ziegeldach, kleinen Fenstern in beiden Geschossen und einem schmalen Durchgang an der Seite. Athelstan ging den Gang hinunter und spähte über die Pforte am Ende. Er sah in einen großen Hof, der leer war bis auf ein paar Bettler, die dort kauerten. Verwundert kehrte er zur Vorderseite des Hauses zurück und klopfte an die Tür. Cranston und Benedicta standen hinter ihm. D'Arques' freundliche Frau öffnete und begrüßte sie lächelnd.