»Pater Athelstan!« Sie warf einen raschen Blick auf Cranston und Benedicta.
»Zwei Freunde«, erklärte Athelstan. »Sir John Cranston, der Coroner der Stadt London, und Benedicta, ein Mitglied meines Pfarrgemeinderates.«
Die Frau wandte sich um und trat zurück in den Schatten des Hauses.
»Kommt herein«, sagte sie leise. »Mein Mann ist bei der Arbeit. Ihr wollt ihn wegen des Wunders zu St. Erconwald sprechen?«
»Ja«, antwortete der Ordensbruder. »Die Kunde davon hat sich in ganz Southwark verbreitet und sogar die andere Seite des Flusses erreicht.«
D'Arques saß in der kühlen, mit Stein ausgelegten Küche; die auf dem Tisch verstreuten Münzen, die Pergamentstreifen, Tintenhorn und Federkiel sowie der kleine schwarzperlige Abakus ließen erkennen, daß er gerade mit seiner Buchführung beschäftigt war. Als sie hereinkamen, schob er den Schemel zurück, stand auf und lud sie ein, sich an den Tisch zu setzen.
»Bruder Athelstan, seid mir willkommen.« Alle wurden einander vorgestellt; er gab Cranston die Hand und nickte Benedicta höflich zu. Athelstan nahm Platz und sah sich um. Die Küche war sauber und aufgeräumt. Von einem großen Kessel auf dem kleinen Holzfeuer stieg köstlicher Duft auf. D'Arques sah Athelstans Blick. »Rindfleischeintopf«, sagte er. »Aber es sind ja nicht die Kochkünste meiner Frau, die Euch interessieren.« Er schob den weiten Ärmel seines Mantels zurück und entblößte einen gesunden Arm. »Ihr seht, Pater, die Infektion ist nicht zurückgekehrt.«
Cranston und Benedicta betrachteten die gesunde Haut und suchten nach irgendwelchen Spuren, fanden aber keine. D'Arques' Frau setzte sich ans andere Ende des Tisches und beobachtete sie aufmerksam.
»Master D'Arques.« Athelstan rutschte unbehaglich hin und her; er fühlte sich jetzt wie ein Eindringling in diesem glücklichen Haus. »Habt Ihr schon immer in Southwark gelebt?«
»Ich bin in Southwark geboren und aufgewachsen.«
»Und Ihr wart Tischler?«
»Ich habe verschiedene Berufe ausgeübt, Pater. Warum fragt Ihr?«
»Wart Ihr früher schon einmal verheiratet?«
D'Arques warf den Kopf in den Nacken und lachte. Dann zwinkerte er seiner Frau zu. »Gebranntes Kind scheut das Feuer, Pater! Nein, Mary Twyford« - und er nickte seiner Frau zu - »ist meine erste und einzige Gattin. Meine erste und einzige Liebe«, fügte er leise hinzu. Die Frau senkte verlegen den Blick.
»Twyford?« wiederholte Cranston. »Ihr seid mit dieser Familie verwandt?«
»O ja, Sir John. Mit den berühmten Twyfords, den Kaufmannsfürsten«, sagte sie. »Aus dieser Familie stamme ich. Meinem Vater hat es sehr widerstrebt, daß ich außerhalb des Familienzirkels und der großen Kaufmannsgilden heiraten wollte, die die Twyfords beherrschen.« Athelstan hatte das Gefühl, jetzt so weit gegangen zu sein, wie er nur wagen könne. Er wollte das Gespräch in eine profanere Richtung lenken, als es plötzlich klopfte. »Entschuldigt«, murmelte D'Arques. »Wir haben uns uni andere Dinge zu kümmern.«
Seine Frau erhob sich. Sie holte ein großes Tablett von einem Nebentisch, kniete sich vor den Herd und löffelte den Eintopf in kleine, irdene Schüsseln.
»Wollt Ihr auch etwas essen?« fragte sie über die Schulter. »Oder etwas trinken?«
»Nein, danke«, sagte Athelstan mit raschem Blick auf Cranston. »Ihr habt Kinder, Master D'Arques?« Wieder lachte der Mann. Er stand auf und öffnete die Tür. Athelstan erblickte die Bettler, die er draußen gesehen hatte. Erwartungsvoll spähten sie jetzt in die Küche. »Geht und setzt euch«, sagte D'Arques leise zu ihnen. »Setzt euch an die Wand, und meine Frau bringt euch das Essen hinaus.«
Die Bettler gehorchten still, und Mistress D'Arques schob die Schüsseln so zurecht, daß ein großer Teller mit geschnittenem Brot dazwischenpaßte. Sie lächelte ihren Gästen zu und verschwand dann nach draußen, wo sie von Dankes- und Beifallsrufen begrüßt wurde.
»Ihr speist die Armen?« fragte Benedicta, und ihre Augen glänzten vor Bewunderung.
»St. Swithin ist unsere Pfarrgemeinde, Mistress Benedicta. Jeder von uns hat seine Pflichten. Täglich zur Mittagszeit speisen wir die Armen unseres Pfarrbezirks. Das ist das mindeste, was wir tun können.«
Athelstan nickte. Er stand auf und ging zur Tür. Bei einem raschen Blick in die Runde entdeckte er einen kleinen, wunderschön geschnitzten Schrank. »Habt Ihr den gemacht, Master D'Arques?«
»Natürlich; er trägt ja mein Zeichen.« D'Arques trat zu Athelstan und deutete auf ein kleines Emblem dicht über einem der Scharniere, ein verschnörkeltes Kreuz mit zwei fein geschnitzten Kronen rechts und links. »Pater«, fragte er leise, »warum seid Ihr hier?« Athelstan lächelte. »Wunder sind etwas Seltenes. Ich bin hergekommen, um mich davon zu überzeugen, daß es in Eurem Fall von dauerhafter Wirkung war.« Athelstan winkte seinen Begleitern zu. »Sir John, Benedicta, wir haben jetzt genug von Master D'Arques' Zeit verschwendet. Sir, meine Empfehlungen an Eure Frau Gemahlin.« Der Tischler führte sie hinaus; Cranston wartete wenigstens, bis sie um die Ecke gebogen waren, ehe er seinen Gefühlen Luft machte.
»Athelstan, was in Gottes Namen hatten wir da zu suchen?«
»Nur eine wilde Vermutung, Sir John. D'Arques hat das große Mysterium in St. Erconwald ausgelöst. Ich dachte mit, es könnte immerhin sein - ein unwürdiger Verdacht —, daß Master Watkin ihn dazu angestiftet hatte.«
»Das glaubt Ihr?« fragte Benedicta.
»Bei Watkin und seinem Verbündeten und früheren Feind Pike halte ich alles für möglich«, sagte Athelstan knapp. »Aber kommt - noch einen letzten Besuch.« Sie besuchten den Arzt Culpepper in seinem muffigen, schäbigen Haus in der Pig Pen Lane, aber der alte Doktor war keine große Hilfe.
»Master D'Arques«, bestätigte er, »ist ein würdiges Mitglied der Gemeinde, ein ehrlicher Handwerker, der eine scheußliche Infektion an seinem Arm hatte. Nein«, sagte er, als er sie zur Tür führte, »man wird nicht erleben, daß Master D'Arques und seinesgleichen sich an den zweifelhaften Geschichten beteiligen, die Watkin, der Mistsammler, und Pike, der Grabenbauer, betreiben.«
Langsam gingen die drei zurück nach St. Erconwald. Athelstan verabschiedete sich von Benedicta, faßte den widerstrebenden Sir John am Arm und marschierte schnell auf die London Bridge zu.
»Das Heim ist da, wo das Herz ist«, witzelte er und bemühte sich, seine eigene Enttäuschung über die fruchtlosen Besuche zu verbergen. »Und jetzt wird es Zeit, Lady Maude entgegenzutreten.«
Als sie Sir Johns Haus abseits der Cheapside erreichten, waren die beiden erschöpft. Der Tag war heiß geworden, und in den staubigen Straßen drängten sich die Händler. Im Gedränge der Cheapside hatten sie sich ihren Weg fast mit Gewalt bahnen müssen, so zahlreich waren die Händler, Lehrjungen, wichtigtuerischen Marktbüttel, um Almosen winselnden Bettler und eine Kette von Übeltätern, die zu einem Käfig bei der Großen Wasserleitung geführt wurden. Eine Schauspielertruppe, die am großen Marktkreuz eine behelfsmäßige Bühne errichtet hatte und ein Mirakelspiel über den Sturz der Jezebel aufführte, machte die Sache nicht besser. Leider kamen Cranston und Athelstan erst zum Höhepunkt des Stücks, als die grell geschminkte Hurenkönigin vom Propheten Elias dazu verdammt wurde, lebendig von den Hunden gefressen zu werden. Die Menge war ganz gefesselt von dem Drama; die Leute riefen »Oh!« und »Ah!« und beschlossen, dem Propheten zu »helfen«, indem sie allen Abfall, den sie zu fassen bekamen, auf die Bühne warfen. Cranston mußte einen Taschendieb, den er in der Menge entdeckt hatte, mit einem krachenden Hieb auf das Ohr zu Boden schlagen. »Hau bloß ab, du kleiner Halunke!« donnerte der Coroner. Leider hallte seine Posaunenstimme bis zur Bühne, und der Mann, der den Propheten spielte, glaubte, Sir John spreche mit ihm. Wäre Athelstan nicht eingeschritten, hätte es ein noch größeres Drama gegeben, denn Cranston richtete sich zu voller Höhe auf und fing an, Beschimpfungen gegen die Bühne zu schleudern; er schmähte die Schauspieler als Dämonen aus der Hölle und behauptete, sie hätten gar keine Lizenz für ihren Auftritt. Andere mischten sich ein, und Athelstan war erleichtert, als es ihm gelungen war, Sir John durch die Menge zu bugsieren, vorbei an seiner Lieblingstränke, der Schenke »Zum Heiligen Lamm Gottes«, und zur Haustür des Coroners.