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»Glaub mir, Bruder«, wisperte er heiser, »nichts, und ich wiederhole: gar nichts auf der Welt ist furchterregender als Lady Maude in voller Rüstung. Da lege ich mich lieber jederzeit mit einer Meute von Rüpeln an!«

Lady Maude kehrte mit einem Tablett mit Wein und Zuckerwerk zurück und bediente Sir John so demütig und pflichtbewußt wie ein Knappe. Der Coroner sah, woher der Wind jetzt wehte; er richtete sich auf und faßte Zuversicht. In barschem Ton erkundigte er sich, was in seiner Abwesenheit so alles vorgefallen sei, und nickte ungeduldig, während Lady Maude über die Nachbarn schwatzte, die Brotpreise und die Zahl der Geschäftsstreitigkeiten in der Stadt. »Oh, Sir John!« Lady Maude hob plötzlich die Hand zum Mund. »Das hatte ich ganz vergessen. Da sind Briefe für Euch gekommen.« Sie ging zu einer Truhe und nahm zwei dünne Pergamentrollen heraus. Sir John öffnete sie, überflog rasch den Inhalt und schnalzte mit der Zunge. »Wir haben Glück, Bruder«, verkündete er. »Zum ersten: Meine Schreiber haben herausgefunden, daß deine Kirche erst hundertdreißig Jahre alt ist. Vorher stand dort ein Wohnhaus. Zweitens — was noch wichtiger ist —, meine Spitzel haben Master William Fitzwolfe ausfindig gemacht, den ehemaligen Pfarrer der Kirche von St. Erconwald. Man findet ihn im Gasthaus ›Zum samtenen Wappenrock‹ in einer Gasse bei Whitefriars.«

Athelstan sprang auf und griff aufgeregt nach dem Pergament.

»Und warum können Eure Leute ihn nicht einfach verhaften?«

»Im Gesetz«, verkündete Cranston wichtigtuerisch, »gibt es für alle Vergehen eine Verjährungsfrist. Und bedenke, aus deiner Kirche zu flüchten ist ja kein Verbrechen.«

»Ist es doch, wenn man den größten Teil des Kirchenbesitzes mitnimmt.«

»Lieber Bruder, du kennst das Gesetz. Wir können nichts beweisen.«

»Was kann ich also tun?«

Cranston stand auf und löste seinen Gürtel. »Bring mir mein Schwertgehenk, Lady Maude, und einen meiner kräftigen Knüttel für Athelstan. Wir werden Master Fitzwolfe einen Schrecken einjagen.«

Kurze Zeit später rauschte Cranston großartig zur Haustür hinaus, nachdem er seine Frau zärtlich umarmt und ihr zugeraunt hatte, daß alles gut ausgehen werde. Er küßte auch seine beiden »Kerlchen« auf die Stirn, was die zwei mit neuerlichen Wutanfällen erwiderten.

»Ich wünschte, er würde einmal daran denken, daß er einen Bart trägt«, sagte Lady Maude im Flüsterton zu Athelstan. »Und der ist so stachelig wie eine Ligusterhecke.«

ACHT

Cranston und Athelstan drängten sich durch das dichte Treiben der Cheapside und in die schmutzigen Elendsquartiere um das Karmeliterkloster Whitefriars. Bettler heulten nach Barmherzigkeit. Fliegen schwärmten über den zahllosen Kothaufen, die die Gossen verstopften und sich bisweilen hüfthoch vor den verdreckten, faulig stinkenden Behausungen türmten. Zwei Jungen hatten einen kleinen Hund gefangen und versuchten, ihm einen Stock in den After zu spießen; Cranston versetzte ihnen einen raschen Tritt, und sie stoben davon. Höker und Hausierer mit Bauchläden voller Firlefanz oder kleinen Karren mit von Fliegen umschwärmten Eßwaren standen an den Ecken, riefen ihre Waren aus und hielten dabei wachsam Ausschau nach den Bütteln, die in dieser Gegend patrouillierten. Ein paar Marktaufseher hatten zwei Männer gefaßt: Der eine hatte nicht die erforderliche Gebühr und Steuer für den Handel in der Stadt bezahlt, und den anderen versuchten sie zu zwingen, »Käse und Brot« zu sagen, denn sie hatten ihn im Verdacht, ein Flame zu sein, der gar nicht das Recht hatte, Waren in die Stadt zu bringen. »Wenn er es falsch ausspricht«, knurrte Cranston aus dem Mundwinkel, während er vorbeistolzierte, »dann werden sie ihm die Handfläche mit einem glühenden Eisen verbrennen.«

In den Türen der engen Gäßchen huschten dunkle Gestalten ein und aus. Die Luft war zum Schneiden vom schwarzen Qualm der Leimsieder, die hinter ihren schmutzigen kleinen Häusern in großen Eisenfässern Knochen und Abfälle aus dem Fleischerviertel verkochten. Cranston schien den Weg genau zu kennen. Athelstan hielt seinen Knüppel fest umklammert; er hielt sich ein kleines Stück hinter ihm und achtete darauf, daß ihnen niemand folgte. Kinder kreischten und zankten. Hunde balgten sich über Abfallbergen. Athelstan war sicher, daß er in einem dieser Haufen eine menschliche Hand gesehen hatte, die gespreizten Finger faulig verwest.

»Gott beschütze uns«, murmelt er.

»Wahrlich, die Pforte der Hölle«, versetzte Cranston. »Sprich deine Gebete, Bruder, und halte die Augen offen. Sollte irgend jemand auf dich zutaumeln, Betrunkener, Frau oder Kind, zieh ihm kräftig eins mit deinem Knüppel über.« Sie gingen eine Gasse hinunter. Eine Schar Bettler löste sich aus dem Schatten und versperrte ihnen den Weg. Cranston zog Schwert und Dolch. »Verpißt euch!« schrie er.

Die Gestalten verschwanden wieder im Dunkel. An der Ecke stand eine Frau mit drei Kindern, deren Körper nur halb von schmutzigen Lumpen bedeckt waren und schreckliche Geschwüre und Blutergüsse aufwiesen. Athelstans Hand ging sofort zu seinem Geldbeutel, als die Frau, in deren knochigem Gesicht nur ein gesundes Auge glitzerte, eine klauenartige Hand ausstreckte. Aber Cranston schlug die Hand herunter und schob Athelstan weiter.

»Behalte dein Geld, Bruder! Siehst du nicht, daß sie eine Simulantin ist?«

»Was ist sie?«

»Eine berufsmäßige Bettlerin.«

Athelstan sah sich rasch um. »Aber die Kinder, Sir John! Diese schrecklichen Blutergüsse!«

Der Coroner lachte leise. »Es ist ein Wunder, Bruder, was die Leute mit einer Mischung aus Salz, Pottasche und Schweineblut so alles anstellen können.«

»Aber es sah so echt aus.«

»Bruder, sieh dir ihre Körper an. Rundlich, wohlgenährt - das sind keine hungernden Kinder. Die essen wahrscheinlich besser als ich.«

»Das wäre dann allerdings ein Wunder«, brummte Athelstan und schüttelte den Kopf über die schiere Arglist dieser Bettler, während er Sir John durch die nächste Gasse folgte. »Sind wir bald da?«

Cranston blieb stehen und deutete auf ein schmutziges Schild, das träge an dem Ale-Stab baumelte, der dort unter dem vorspringenden Dach eines hohen, dreistöckigen Gasthauses hervorragte. Mit einem Fußtritt öffnete er die Tür, und sie traten in eine muffige Dunkelheit, in der nur wenige Öllampen flackerten. Die wenigen Fenster waren hoch oben in der Wand und fest verschlossen. Das Gemurmel erstarb. Ein Prickeln der Angst überlief Athelstan, als er die groben Gesichter, niederträchtigen Augen und verkniffenen Züge der Männer sah, die hier hockten; zwei schliefen, die übrigen steckten in kleinen Gruppen die Köpfe zusammen und tranken oder würfelten.

»Die Küche der Hölle!« knurrte Cranston. Er zog Schwert und Dolch, als ein Mann von dem Tisch neben der Tür aufstand. Athelstan sah eine Messerklinge in seiner Hand blitzen.

»Holla, ihr Böckchen!« verkündete Cranston großartig. »Ein paar von euch kennen mich vielleicht nicht; ich bin aber sicher, daß ich früher oder später eure Bekanntschaft machen werde. Ich bin Sir John Cranston, Coroner der Stadt London und Beamter der Königlichen Justiz. Dies ist mein Schreiber und Secretarius, Bruder Athelstan, ehemals aus Blackfriars.« Seine fette Hand schoß vor und deutete auf den rattengesichtigen Mann mit dem Dolch. »Und du, mein Bürschchen, wirst dich hinsetzen und still sein.«

Der Kerl tat langsam, wie ihm befohlen war. »Verdammt, was wollt Ihr, Cranston?« schrie einer. Cranston hielt sein Schwert hoch. »Ich schwöre, ich will euch nichts Böses; allerdings könnte ich mit ein paar Wachtmeistern zurückkommen und nachsehen, was dieser hübsche Laden so enthält.«

Der schmierige Schankwirt wischte sich die Hände an einem schmutzigen Lappen ab und kam mit unterwürfigen Verbeugungen näher.

»Sir John, Ihr seid mir höchst willkommen.« Cranston packte ihn bei der Schulter. »Nein, das bin ich nicht, du fetter Dreckskerl! Ich will mit jemand hier sprechen, nur sprechen, und ich weiß, daß er da ist, also lüg mich nicht an. Der Mann nennt sich Master William Fitzwolfe und war früher Pfarrer von St. Erconwald.« Totenstille war die Antwort.