Plötzlich stand Athelstan neben ihm und hakte sich bei ihm unter.
»Na, na, Sir John. Eins nach dem anderen. Wir haben immer noch eine Woche Zeit, ehe wir wieder in den Savoy-Palast müssen.«
Cranston merkte, wie er sich entspannte. »Wir?« wiederholte er hoffnungsvoll.
»Natürlich, Sir John. Wenn Ihr scheitert, muß ich doch da sein. Aber« - er ließ Cranstons Arm los und drückte dessen rundlichen Ellbogen - »mit Gottes Hilfe wird alles gutgehen. Und jetzt kommt; der Prior erwartet uns.« In Pater Anselms Zimmer fanden sie das Generalkapitel vor, ganz wie am ersten Tag, als Athelstan sie kennengelernt hatte.
Bruder Peter und Bruder Niall sahen jetzt besorgt und verschlossen aus. Bruder Henry wirkte gefaßt, und der Großinquisitor und Bruder Eugenius saßen da wie Jagdhunde und funkelten Athelstan und Sir John an.
»Wieder ein Toter«, begann Eugenius. »Und was für Fortschritte habt Ihr gemacht, Athelstan?«
Prior Anselm klopfte auf den Tisch. »Laßt unseren Bruder sprechen, Eugenius, und mäßigt Euch. Beginnen wir mit einem Gebet.« Der Prior bekreuzigte sich und zwang die anderen, es ihm nachzutun, als er ein kurzes Gebet um Rat und Führung an den Heiligen Geist richtete. »So«, fuhr er dann kühl fort. »Athelstan, du hattest um diese Sitzung gebeten.«
»Pater Prior, ich danke Euch wie auch allen anderen Anwesenden, daß Ihr gekommen seid. Zunächst, Bruder Henry: Ich habe deine Abhandlung gelesen. Ich fand sie glänzend und auch einleuchtend, und es fällt schwer, darin Ketzerei zu entdecken. Zweitens: Callixtus ist in der Bibliothek nicht gestürzt. Er wurde gestoßen, und jemand hat ihm mit einem Kerzenleuchter den Schädel eingeschlagen.« Athelstan hob die Hand, um die erregten Fragen zurückzuweisen. »Ich habe den Kerzenleuchter gefunden, und Mylord Coroner hat ihn begutachtet und als Beweismittel akzeptiert. Drittens«, fuhr er fort und ignorierte das herablassende Lächeln der beiden Inquisitoren, »Bruder Roger ist tot, aber er hat keinen Selbstmord begangen. Er wurde stranguliert, und dann ließ man es so aussehen, als habe er sich erhängt. Viertens: Sein Tod und die übrigen Todesfälle stehen in einem Zusammenhang mit den Angelegenheiten dieses Kapitels, auch wenn ich noch nicht weiß, wie und warum. Nun könnte ich jeden hier, auch den Pater Prior, auffordern, Rechenschaft abzulegen über alles, was er an den Tagen gemacht hat, als Bruno, Roger und Callixtus starben; aber Blackfriars ist ein großes Kloster mit weitläufigen Liegenschaften. Man würde eine Ewigkeit brauchen, um die Fakten zu untermauern, falls das überhaupt möglich ist.«
»Du erwähnst Alcuin nicht?« Bruder Niall ergriff das Wort, und sein schroffer Tonfall verriet seinen singenden gälischen Akzent.
»Ja«, fügte Eugenius an. »Woher sollen wir wissen, daß nicht Alcuin der Mörder ist? Vielleicht lauert er immer noch irgendwo in Blackfriars. Du sagst schließlich selbst, Athelstan, daß dies ein weitläufiges Kloster ist; hier gibt es Nischen und Winkel, die selten oder nie jemand betritt.«
»Unsinn!« schnappte Anselm.
»Nein, Pater Prior, Eugenius hat ja recht«, sagte Athelstan. »Bruder Alcuin ist noch hier; ich fürchte allerdings, er ist tot.«
»Wo denn?« riefen alle im Chor.
»Pater Prior, wann wird die Requiemmesse für Roger gesungen?«
»Heute mittag. Wir können nicht bis morgen warten. Die Kirche ist da sehr streng. Sonntags dürfen keine Totenmessen gesungen werden.«
»Dann bestehe ich darauf, Pater Prior, daß die Beerdigung am Montag stattfindet.«
»Wieso?«
»Weil ich möchte, daß das Grabgewölbe unter dem Chor geöffnet und Brunos Sarg herausgehoben wird. Wenn er geöffnet ist, werden wir Bruder Alcuin finden.«
»Sakrileg!« rief der Großinquisitor. »Grabschändung! Athelstan, du wandelst auf sehr dünnem Eis.«
»Ein Sakrileg, guter Inquisitor, ist eine Frage des Willens - wie jede Sünde. Ich will aber Bruder Bruno nichts Böses antun - Gott schenke ihm die ewige Ruhe.« Athelstan appellierte an den Prior. »Ihr habt mich hergerufen, damit ich die Wahrheit herausfinde und ein schreckliches Geheimnis aufkläre. Bruder Brunos Sarg muß geöffnet werden.«
»Wir erheben Einspruch!« riefen die beiden Inquisitoren. Der Prior klopfte wieder auf den Tisch. »Ich wüßte nicht, was gegen Athelstans Wunsch einzuwenden wäre. Die Sache muß geklärt werden. Wenn du unrecht hast, Bruder, dann ist ja nichts verloren. Aber wenn es stimmt, was du sagst, dann kommen wir hier vielleicht ein wenig weiter.« Pater Anselm griff nach einer kleinen Glocke und läutete. Ein Diener kam herein, und Anselm flüsterte ihm Anordnungen zu. Der Mann starrte ihn erschrocken und überrascht an.
»Tu, was ich sage«, befahl der Prior. »Sag Bruder Norbert Bescheid, und hol dir noch zwei andere. Laß dir von ihnen Stillschweigen schwören, und dann führt ihr meine Anordnungen aus.«
Als der Diener gegangen war, schaute Anselm in die Runde. »Gibt es noch etwas, Athelstan?«
»Ja, Pater, aber Sir John und ich müssen Euch unter vier Augen sprechen.«
»Warum?« fragte William de Conches. »Als Großinquisitor verlange ich, dabeizusein.«
»Darauf gebe ich einen Schweinearsch, Mann!« sagte Cranston. »Dies ist ein englisches Kloster; auch wenn es dem kanonischen Recht untersteht, gilt hier das Gesetz der Krone. Als oberster Justizbeamter des Königs in dieser Stadt verlange ich, den Pater Prior allein zu sprechen.«
»Einverstanden«, sagte Pater Anselm knapp. »Brüder, wir treffen uns im Chor.«
Athelstan wartete, bis die Tür sich hinter den anderen geschlossen hatte.
»Was gibt es, Bruder?« fragte der Prior.
»Pater Prior, der Name Hildegarde läßt mich nicht los. Wen gibt es in Blackfriars, der mit diesem Namen etwas anfangen könnte?«
»Das ist kein englischer Name«, fügte Cranston hinzu. »Ich sehe oft Listen mit Namen von Geschworenen und Steuerzahlern. Hildegarde ist deutsch.«
Der Prior rieb sich die Augen. »Wer, glaubst du, könnte sie sein, Athelstan?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht eine Äbtissin oder eine der Heiligen.«
»Ich weiß von keiner Verehrung für eine Frau mit diesem Namen. Aber wir haben einen alten Gelehrten hier, Bruder Paul. Erinnerst du dich an ihn, Athelstan? Inzwischen ist er krank, halb erblindet und bettlägerig. Die meiste Zeit liegt er im Spital. Aber kommt mit. Sein Verstand ist noch scharf, und vielleicht setzen wir seine Erinnerung in Gang.« Der Prior führte sie durch den Kreuzgang und eine kleine Seitenpforte in einen Blumengarten, dann in das zweistöckige Spitalhaus. Es roch süß nach zermahlenen Kräutern, Seife und Stärke, aber Athelstan witterte auch den bitteren Duft gewisser Tränke. Der Krankenbruder führte sie die Treppe hinauf in einen langen Raum mit Betten zu beiden Seiten; jedes Bett war hinter einem Vorhang verborgen. Anselm flüsterte dem Krankenbruder ein paar Worte zu, und dieser deutete auf einen Alkoven am anderen Ende, der durch ein weißes, grüngesäumtes Tuch an einer glänzenden Messingstange vom Rest des Raumes abgeteilt war. »Dort findet Ihr Bruder Paul. Er ist guter Dinge. Man hat ihm versprochen, daß er eine Weile im Garten sitzen darf.« Gefolgt von Athelstan und Cranston, ging Anselm über den blankpolierten Fußboden. Der Prior zog das Tuch beiseite. Da lag ein alter Mann, den Kopf auf einem Polsterkissen. Das Haar rings um seine Tonsur war schneeweiß, das Gesicht schmal, und die einst leuchtenden Augen über den hohen Wangenknochen waren jetzt milchig weiß überzogen.