Athelstan hatte recht. Die übrigen Angehörigen des Generalkapitels saßen leise murrend auf den Sitzbänken des Chores, und ein schwitzender, rotgesichtiger Laienbruder war hinter dem Altar damit beschäftigt, die Steinplatten über dem Grabgewölbe herauszuhebeln. Norbert half ihm dabei. Der Prior plauderte ein Weilchen, bis ein schweißüberströmter Laienbruder rief: »Pater Prior, wir sind soweit!« Athelstan, Cranston und die anderen gingen um den Hochaltar herum. Rogers Sarg war beiseite geschoben worden, ebenso das Eichenholzgestell, der rote Teppich war aufgerollt, und die Steinplatten lagen aufgestapelt, das Grabgewölbe war offen. Bruder Norbert und seine Gefährten trugen zwei Leitern herbei und kletterten vorsichtig in das Gewölbe. Der Prior reichte ihnen eine brennende Kerze hinunter. Cranston spähte in die Tiefe, und es schauderte ihn. Er erkannte Särge und begriff, daß dieses Gewölbe ein riesiges Mausoleum war. Seile schlängelten sich in die Tiefe. »Wir haben Brunos Sarg gefunden!« Norberts Stimme klang hohl und geisterhaft wie aus einem tiefen Abgrund. Sie hörten ein Gleiten, leises Krachen und unterdrückte Flüche. Norbert und ein Laienbruder kamen zurück; sie warfen die Seile hoch, bevor sie selbst in den Chor hinaufkletterten.
»Bruder Brunos Sarg steht jetzt unmittelbar unter uns«, keuchte Norbert. »Aber wir brauchen Hilfe. Er ist sehr schwer.«
Auf Befehl des Priors packten alle, auch Cranston und Athelstan, die Seile und begannen zu ziehen. Das Ganze erwies sich als mühselig, denn der Kiefernholzsarg war schwer wie Blei.
»Freilich«, ächzte der Prior, »einen Sarg hinunterzulassen ist leicht.« Er lächelte schmal. »Aber wer hätte gedacht, daß wir einmal einen wieder hochziehen müssen?« Alle zogen an den Seilen, aber der Sarg war doch zu schwer, und der Prior räumte widerstrebend ein, daß weitere Hilfe gebraucht wurde. Sie ließen die Seile fallen und machten eine kurze Pause, Norbert wurde fortgeschickt, weitere Hilfe zu holen.
»Macht nichts.« Der Prior zuckte die Achseln. »Die anderen werden es sowieso bald erfahren.«
Norbert kehrte zurück, und der Prior schärfte den neuen Helfern ein, unbedingt Stillschweigen zu bewahren. Diesmal stiegen andere die Leiter hinunter in das Gewölbe, und endlich hatte man den mächtigen Kiefernholzsarg herausgehoben und im Chor abgestellt. Der Prior dankte allen und entließ die Laienbrüder mit Ausnahme von Norbert. Athelstan taten Arme und Schultern weh; Cranstons Gesicht war rot wie eine Pflaume, und der Schweiß rann ihm am Hals herunter.
»Ich könnte einen Becher Weißen vertilgen!« maulte er. »Bei den Zähnen der Hölle, Athelstan! Bruder Bruno schien mit größerem Widerwillen aus seinem Grab herauszukommen als hineinzugehen.«
»Dafür gibt es einen Grund, Sir John.« Athelstan wartete nicht auf den Prior; er borgte sich Cranstons langen Dolch, ging zu dem Sarg hinüber und begann, den Deckel aufzustemmen. Fauliger Verwesungsgeruch durchwehte den Chor, und die anderen begannen zu murren, als sie sahen, was er da tat. Der Prior öffnete den Mund und wollte Einwände erheben, aber Athelstan arbeitete trotzig weiter, unterstützt von Cranston, der mit dem Mantel Mund und Nase vor dem Fäulnisgestank schützte. Das Mißfallensgemurmel schwoll an, bis Cranston den Mantel herunterzog und die Umstehenden erbost anherrschte: »Wenn ihr den Geruch nicht aushaltet, zündet ein wenig Weihrauch an, verdammt!« Der Prior war einverstanden. Rauchfaß, Holzkohle und Weihrauchkörner wurden herbeigeholt. Die Kohle wurde angezündet und mit den Weihrauchkörnern bestreut. Endlich war der Sargdeckel offen. Athelstan schob ihn zur Seite und wandte sich würgend ab, denn grauenhafter Gestank drang durch den weihrauchvernebelten Chor wie Schlamm durch klares Wasser. »O mein Gott«, murmelte Cranston. Athelstan hielt sich die Nase zu und spähte in den Sarg. »Ich habe schon manchen schrecklichen Anblick gesehen«, erklärte Cranston. »Aber in Gottes Namen …« Bruder Brunos verwesender Leichnam ruhte unter einem dünnen Gazeschleier, und darauf lag, mit dem Gesicht nach unten, der von Gas aufgeblähte, rasch faulende Leib Bruder Alcuins. Trotz Gestank und den sichtbaren Merkmalen der Verwesung, streckte Athelstan die Hand aus und berührte sanft den Hinterkopf des Ermordeten. »Oh, der gütige Jesus, der Sohn Mariens, erbarme sich deiner, und Gott vergebe dir alle deine Sünden.« Athelstan schaute auf den Mann hinunter, den er einmal gekannt, mit dem er gebetet, gegessen und getrunken hatte und der jetzt brutal ermordet vor ihm lag, in einen Sarg gestopft wie ein dreckiger Lappen. Behutsam drehte er den Leichnam halb um und versuchte, nicht in die starren Augen und das blauschwarze Gesicht oder auf die hervorquellende, geschwollene Zunge zu schauen. Er zog die Kutte des toten Bruders am Hals herunter und sah das dünne, purpurviolette Mal der Garotte.
»Um Gottes willen, Pater Prior!« rief Cranston. Anselm stand wie angewurzelt da; er war weiß im Gesicht, und seine Augen waren starr vor Entsetzen. Die anderen konnten nicht hinschauen; sie hatten sich hinter den Altar zurückgezogen, und nur Bruder Norbert war dageblieben. »Du scheinst mir ein robuster Kerl zu sein«, stellte Cranston fest. »Lauf rasch und hole ein Leichentuch und einen Sarg. Na los, Mann!«
Norbert hastete davon, und Cranston straffte sich. Er nahm Athelstan beim Arm. »Komm, Bruder«, sagte er sanft. »Komm weg hier. Der Pater Prior braucht deine Hilfe.« Athelstan riß sich von dem entstellten Leichnam los und ging zu Anselm hinüber.
»Pater Prior«, flüsterte er und nahm Anselms Hand. Sie war eiskalt. »Pater, kommt mit uns.« Er packte den Mann bei der Schulter und schüttelte ihn heftig. »Hier können wir nichts mehr tun.«
ZEHN
Der Prior ließ sich fortführen wie ein verängstigtes Kind. Beim Chorgestühl angekommen, schaute er die anderen mit seltsamer Miene an, denn erst jetzt ging ihm das ganze Grauen dessen auf, was er gesehen hatte. Er preßte die Hand vor den Mund und ging schnellen Schritts durch das Kirchenschiff und zum Hauptportal hinaus, um sich draußen zu übergeben.
Athelstan blieb stehen und beobachtete die übrigen; Henry von Winchester saß da und hatte den Kopf in beide Hände vergraben. Niall und Peter steckten die Köpfe zusammen und tuschelten mit bleichen Gesichtern, und die beiden Inquisitoren saßen wie Strohpuppen da und starrten mit leerem Blick in den Altarraum. Athelstan zwang sich zur Entspannung; er atmete tief und versuchte, seinen Magen zu beruhigen und das Bedürfnis zu unterdrücken, ob dieser Blasphemie zu heulen und zu schreien.
Norbert und ein paar andere kamen mit einem Leintuch und einem neuen Sarg. Athelstan dankte Gott für Cranstons Autorität als Coroner. Bruder Norbert hüllte Alcuins Leiche in Leder, schnitt ein wenig von dem Seil ab und band das Leder fest zu, ehe er den Toten in den neuen Sarg legte. Dann schaufelte er noch mehr Weihrauchkörner auf die glühende Holzkohle, bis es aussah, als wüte ein Feuer hinter dem Altar, und duftende Wolken sich erhoben, um den durchdringenden Verwesungsgestank zu überdecken. Athelstan schaute durch das Kirchenschiff zum Hauptportal, wo der Prior vornübergebeugt stand und um Fassung rang. Cranston und Norbert zogen sich zurück; Athelstan hörte, wie sie zur Sakristeitür hinausgingen. Dann kam der Coroner zurück, und Norbert folgte ihm mit einem Tablett, auf dem ein großer Krug Wein und acht Becher standen. »Hol den Prior«, flüsterte Cranston. »Bring ihn wieder her.« Athelstan gehorchte. Der Pater Prior wirkte etwas gefaßter; seine Hände waren warm, und sein Gesicht hatte wieder ein wenig Farbe, aber seine Augen tränten immer noch vom heftigen Würgen.
»O Athelstan«, flüsterte er, als sie langsam wieder zum Altarraum hinaufgingen. »Möge Gott mir vergeben! So tief versenkt habe ich mich in die Führung eines großen Klosters, daß ich das Böse im Menschen in seiner ganzen Grauenhaftigkeit vergessen habe, und die schrecklichen Folgen der Sünde. Wer konnte so etwas tun? Einen armen Priester wie Alcuin hier vor Gottes Auge ermorden! Am Altare Christi! Und dann seinen Leichnam und den des armen Bruno schänden! Wer? Wer kann so böse sein?« Athelstan führte ihn behutsam zu einem der Chorstühle, Cranston ließ den Wein in die Becher gluckern und hielt ihnen je einen entgegen. Norbert und sich selbst bediente er zuletzt.