Cranston kam mit einem randvollen Humpen die Treppe heraufgepoltert und starrte mit großen Augen auf das, was Norbert da gebracht hatte.
»Das sollen wir alles lesen?«
»Aye, Sir John, das und noch mehr.«
Cranston fluchte leise. »Athelstan«, flüsterte er dann, »herzallerliebster Bruder, heute in einer Woche muß ich wieder in den Savoy-Palast.«
Athelstan wandte dem Coroner den Rücken zu, damit dieser seine Bestürzung nicht sehen konnte. Bis jetzt hatte er keine Lösung für dieses Problem gefunden; aber wenn Cranston das ahnte, würde ihn nichts mehr daran hindern, sich in einem Meer der Verzweiflung zu ertränken, von einem Meer von Rotwein ganz zu schweigen.
»Mut, Sir John!« rief er über die Schulter. »Ich habe schon eine Idee«, log er dann. »Aber vorläufig wollen wir uns auf das andere Problem konzentrieren.«
»Warum?« fauchte Cranston.
Athelstan drehte sich um, ging zu ihm und hockte sich vor ihm nieder. »Sir John, wir haben es hier mit einem Mörder zu tun. Wir wissen, wie er gemordet hat, aber wir wissen immer noch nicht, warum. Ist Euch klar, daß wir keine einzige Spur haben, nicht den Fetzen eines Beweises gegen irgend jemanden? Auf diese oder jene Weise enthalten die Bücher hier die Antwort, und ich gedenke, sie zu finden!« Athelstan packte Cranstons Handgelenk. »Und ich danke Euch, Sir John, für das, was Ihr in der Kirche getan habt: daß Ihr für den Leichnam des armen Alcuin gesorgt habt. Und Eure Entscheidung, die Art und Weise des Mordes nicht bekanntzugeben, könnte den Mörder später einmal in die Falle tappen lassen. Glaubt mir, Sir John, wir müssen ihm eine Falle stellen.« Cranston nickte betrübt. Norbert brachte noch mehr Bücher und auch Erfrischungen, um Cranstons wunderbaren Appetit zu stillen. Die meiste Zeit über blieben er und Athelstan im Gästehaus; nur hin und wieder machten sie einen kurzen Spaziergang oder besuchten die Kirche. Der Prior kam vorbei, um sich zu vergewissern, daß Athelstan zurückkommen würde. Dann ging er, die geziemende Beerdigung seiner beiden Ordensbrüder in die Wege zu leiten. Athelstan und Cranston blätterten eines der ledergebundenen Bücher nach dem anderen durch.
»Sucht nach dem Namen Hildegarde«, ermahnte Athelstan den Coroner. »Wenn Ihr irgend etwas findet, was mit diesem Namen zu tun hat, sagt mir gleich Bescheid.« Sie verbrachten fast den ganzen Samstag und den größeren Teil des Sonntagvormittags damit, Seite für Seite gründlich zu durchforschen. Athelstan machte es sogar Spaß. Es war, als sei er wieder ein Student, der mit alten Freunden zusammentraf: mit dem heiligen Thomas von Aquin, mit den Sentenzen des Peter Lombard, mit den brillanten, wenn auch sarkastischen Analysen des Peter Abelard. Die Bücher enthielten Abschriften ihrer Werke, sorgsam verfaßt von Generationen von Dominikanern in Blackfriars. Manchmal hatten die Kopisten eigene Kommentare an den Rand geschrieben, hin und wieder auch persönliche Bemerkungen hinzugefügt - etwa: »Mich friert«, »Die Augen tun mir weh«, »Das finde ich langweilig« und »Oh, wann kommt endlich der Sommer?« Manche Schreiber hatten sogar die Gesichter von Fabelwesen hineingemalt, um ihre Brüder zu veralbern. Der Prior, der hier vor etwas über hundert Jahren regiert hatte, mußte ein rechter Tyrann gewesen sein, denn ein Kopist hatte einen plumpen Galgen gezeichnet, an dem sein Oberer baumelte.
*
Cranston wurde die Sache bald langweilig; immer wieder ging er nach unten, um sich in der Küche zu erfrischen, oder er schlief ein und störte Athelstan mit seinem Geschnarche. Schließlich, kurz vor Sonntag mittag, verkündete er, nun habe er genug.
»Ich gehe lieber nach Hause, Athelstan«, verkündete er traurig. »Ich vermisse Lady Maude und die beiden Kerlchen. Hier bin ich mehr Hindernis als Hilfe. Du gehst morgen nach Southwark zurück?«
»Sobald es hell wird, Sir John.«
»Dann treffen wir uns an der London Bridge, wenn die Glocken von St. Mary Le Bow zum Tagesanbruch läuten.« Bewaffnet mit seinem wunderbaren Weinschlauch, stapfte Sir John davon, und Athelstan kehrte zu seinen Forschungen zurück. Unterbrochen vom Läuten der Glocken und dem leisen Gesumm des Klosteralltags, verging der Tag. Der Prior kam herüber und erklärte, daß Roger und Alcuin am Morgen nach dem Hochamt bestattet werden würden, nachdem nun der Chor gereinigt und neu eingesegnet worden war. Er stand in der Küche, rang die Hände und trat von einem Bein aufs andere, und seine Blicke flehten Athelstan an, diesen gräßlichen Ereignissen ein Ende zu machen. Athelstan beruhigte ihn, und der Prior ging. Norbert brachte etwas zu essen. Athelstan bat um neue Kerzen und arbeitete bis lange nach Sonnenuntergang. Gegen Mitternacht hämmerte Bruder Norbert an die Tür und rief seinen Namen. »Athelstan! Athelstan! Rasch!«
Der Ordensbruder öffnete die Fensterläden und schaute hinunter. »Was gibt's?« rief er.
Norbert hielt eine Laterne hoch. »Eine dringende Nachricht von Sir John. Sie wurde an der Pforte abgegeben. Bruder, Ihr müßt sofort herunterkommen!«
Athelstan griff nach seinem Mantel, schlüpfte in die Sandalen und lief hinunter. »Wo ist der Bote?«
»Oh, das war ein Junge. Er sagte nur, in St. Erconwald sei etwas Furchtbares passiert, und Ihr solltet sofort kommen!«
»Sattle mir Philomel. Ist der Junge noch da?«
»Er sagte, er wolle vor der Schenke ›Zum blauen Mantel‹ an der Ecke der Carter Lane auf Euch warten.« Athelstan ging zum Tor. Er war müde, und die Augen taten ihm weh. Was mochte passiert sein? Stand die Kirche in Flammen? Oder lag eines seiner Pfarrkinder im Sterben? Philomel wurde gebracht; schnaubend protestierte er gegen diese unerwünschte Störung seiner Nachtruhe. Ein schlaftrunkener Pförtner öffnete das Tor. Athelstan führte sein Pferd hinaus, stieg auf und ritt die dunkle Straße hinauf zur Schenke.
Neben ihm erhob sich das dunkle Massiv von Blackfriars. In den Häusern auf der anderen Seite brannte kein Licht außer den Laternenhörnern, die an Haken über jeder Tür hingen. Zwei Nachtwächter gingen vorbei mit Stangen auf den Schultern. Sie sahen Athelstans schwarzweiße Gewänder, gingen weiter und kicherten über die seltsamen Gewohnheiten gewisser Priester.
Athelstan hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Bis zur Schenke war es nicht mehr weit. Dann blieb er stehen. Trotz der warmen Nachtluft war ihm kalt, und er verfluchte sich für seine Dummheit. Wieso hatte der Bote nicht im Pförtnerhaus gewartet? Wieso ließ man ihn lange nach dem Abendläuten zu einer Schenke kommen? Der Bruder spähte in die Dunkelheit und war plötzlich hellwach. Er spürte, daß etwas nicht stimmte. Was konnte so dringend sein, daß man ihn mitten in der Nacht herausrief? Er beugte sich vor und spitzte die Ohren. In der Ferne hörte er Hufgetrappel, das schrille Schreien einiger Katzen und das Quieken und Rascheln von Ratten, die in den großen Kotbergen in der Gosse stöberten. »Hallo?« rief er. »Wer ist da?«
Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und er versuchte, auszumachen, ob da an der Ecke der Carter Lane jemand in den Schatten stand. Er spähte zum Himmel hinauf und dachte beiläufig, daß es eine schöne Nacht wäre, um die Sterne zu studieren. Leiser Wind kam auf und wehte den Gestank der Fleischerläden in den Shambles rings um Newgate heran. Sollte er weiterreiten? Doch dann hörte er es: das Scharren von Leder auf dem schmutzigen Kopfsteinpflaster, und ein leises, kratzendes Zischen. »Wer ist …?« Er brach ab, als er das Geräusch erkannte. Er hatte es schon öfter gehört: immer, wenn Cranston den Dolch aus der Lederscheide zog. Eine zweite Aufforderung brauchte Athelstan nicht. Er riß Philomel herum und trat ihm mit aller Kraft die Fersen in die Flanken. In der Regel pflegte das alte Streitroß dann widerstrebend in Trab zu verfallen. Athelstan, nicht eben ein erstklassiger Reiter, trieb ihn an und peitschte ihm mit den Zügel den Widerrist. Hinter sich hörte er Schritte. War es einer, oder waren es zwei?