»Au secours! Aidez-moi!« schrie Athelstan - der übliche Hilferuf für einen, der auf der Straße überfallen wurde. So galoppierte er, auf Philomel einschlagend und um Hilfe brüllend, zurück zum Haupttor von Blackfriars. Die Schritte stoppten. Er hörte einen gedämpften Ruf, ein Klicken, und er duckte sich - aber der Armbrustbolzen schwirrte hoch über seinen Kopf. Lichter flammten auf in den Fenstern, und gottlob hatte der Pförtner das Tor bereits geöffnet. Athelstan sprang aus dem Sattel und zerrte das alte Schlachtroß hinein. »Das Tor verriegeln!« schrie er.
Der Pförtner schlug es zu. Athelstan ließ Philomels Zügel fahren, und während das alte Roß pfeilschnell in den nahen Garten galoppierte, um dort die Blumen zu fressen, stand Athelstan vornübergebeugt da und verschränkte die Arme vor dem Leib, um seine Panik zu bändigen. »Ist etwas nicht in Ordnung, Bruder?«
Athelstan schaute in das schmale Gesicht des Pförtners und richtete sich müde auf. »Doch, doch, laß nur.« Er führte widerwillig Philomel zurück in den Stall, nahm ihm den Sattel ab und machte es ihm für die Nacht bequem. Dann kehrte er zum Gästehaus zurück. Er war wachsam wie in einem Alptraum, denn ihm war klar, daß der Überfall von jemandem hier in Blackfriars geplant worden sein mußte. Sorgfältig sah er sich im Gästehaus um und untersuchte selbst den Weinkrug in der Küche; er verriegelte die Tür, schloß die Fensterläden und ging nach oben, um dort eine unbehagliche Nacht zu verbringen.
Früh am nächsten Morgen stand er auf und verließ Blackfriars. Der Überfall vom vergangenen Abend hatte eine beständige, alles durchdringende Angst in ihm geweckt. Mit ihren Ermittlungen waren sie jemandem nahe gekommen, der mächtig und bösartig genug war, Gauner oder Wegelagerer anzuheuern, die ihnen ans Leben gehen würden, ohne mit der Wimper zu zucken, und das für sehr viel weniger Geld als dreißig Silberlinge.
Als er in die Thames Street einbog und durch Vintry und Ropery zur Bridge Street ritt, war die Sonne noch nicht aufgegangen. Er hielt mit dem immer noch widerspenstigen Philomel Abstand von den Häusern und hatte ein wachsames Auge auf dunkle Türen und Hauseingänge, vor allem in den verkommenen Quartieren am Ufer der Themse. Weinhändler und Schuhmacher schliefen noch fest, und auf den Straßen waren nur vollbeladene Karren unterwegs, die mit ihren Feldfrüchten auf dem Weg zu den Märkten waren. Ein gähnender Büttel, der sich halb schlafend auf seinen Amtsstab stützte, wünschte ihm einen guten Morgen. Ein paar Huren, die ihre roten Haare unter Kapuzenmänteln verborgen hatten, huschten zurück zu ihren Behausungen in der Cock Lane in Smithfield. Ein Schwein war von einem Karren überfahren worden; es quiekte in Todesqualen, bis jemand mit einem Messer aus einer Tür gelaufen kam, dem Tier die Kehle durchschnitt und den blutsprudelnden Kadaver in sein Haus schleifte, nicht ohne Athelstan pfiffig zuzuzwinkern. »Die werden gut essen«, brummte Athelstan. Philomel schnaubte und warf den Kopf zurück, als er das Blut witterte.
Am Aufgang zur Brücke stand noch die Stadtwache. Cranston war nirgends zu entdecken; also kehrte Athelstan um und ritt zu einem Gasthaus namens »Pountney Inn« auf halbem Wege zwischen Ropery und Candlewick Street, einer der wenigen Schenken, die geöffnet sein durften, bevor die Glocken von St. Mary Le Bow den Tagesbeginn einläuteten. Er bestellte sich verdünntes Bier und eine Fleischpastete und bekam heftigen Streit mit dem Wirt, als er die Pastete aufschnitt und zwei tote Wespen darin fand. Athelstan war immer noch müde und aufgebracht von dem Überfall am Abend zuvor und gab schließlich angewidert auf. Er verließ die Schenke, holte Philomel und kehrte zurück zur Bridge Street, wo er stehenblieb und den Verkehr beobachtete, der inzwischen über die Brücke zog. Es war ein klarer Morgen ohne Nebel. Möwen und andere Vögel, die über den Schlickbänken jagten, stiegen empor, kreisten und stießen herab, und die Luft war erfüllt von ihrem Gekreisch. »Bist du ein Landstreicher?«
Athelstan schrak zusammen, als sich eine schwere Hand auf seine Schulter legte. Er drehte sich um und sah Cranstons schnurrbärtiges Gesicht wenige Handbreit vor sich. Athelstan drückte die Hand auf sein Herz.
»Sir John, warum könnt Ihr Euch nicht aufführen wie andere Leute und einfach guten Morgen sagen?« Der Coroner grinste, aber dann wurden seine Augen schmal. »Du siehst ängstlich aus, bleich. Was ist passiert?« Athelstan erzählte es ihm, während sie ihre Pferde über die Brücke führten; er vermied wie immer jeden Blick in den tiefen Abgrund zur Rechten und zur Linken. Als Cranston gutmütig die Stadtwache beschimpfte, mußte er warten, aber sonst hörte der Coroner ihm geduldig zu. Schließlich blieb Sir John stehen, rieb sich das Kinn und starrte mit leerem Blick auf den Eingang zur Kapelle von St. Thomas von Canterbury, die mitten auf der Brücke stand. Hinter ihnen knallte ein Fuhrmann mit der Peitsche. »Na los doch, Fettkloß! Weiter, weiter!«
»Verpiß dich!« schrie Cranston.
Dennoch trieb er sein Pferd an und ließ sich den Überfall noch einmal schildern.
»Und in den verdammten Büchern hast du nichts gefunden?«
»Kein Fitzelchen.«
Cranston rückte den Dolch zurecht. »Aber irgend jemand in diesem verfluchten Kloster weiß, was du suchst.«
»Ja, Sir John, zu diesem Schluß bin ich auch gekommen. Ich bin der Überzeugung, daß alle Mörder arrogant sind. Wie ihr Urvater Kain glauben sie, sich vor Gott und aller Welt verbergen zu können. Aber unsere Demonstration dessen, was dem armen Alcuin widerfahren ist, hat den Meuchelmörder zum Handeln getrieben; denn wenn wir ein Problem lösen können, ist es vielleicht nur eine Frage der Zeit, wann wir auch das andere lösen.«
»Womit wir wieder bei der scharlachroten Kammer wären«, stellte Cranston fest.
»Geduld, Sir John, Geduld. Wie geht es Lady Maude und den beiden Kerlchen?«
Cranston wandte sich um und spuckte aus, als sie die Brücke verließen.
»Diese Burschen haben einen wunderbaren Appetit und eine mächtige Lunge. Das müssen sie von ihrer Mutter geerbt haben.«
Athelstan verzog das Gesicht, um sein Grinsen zu verbergen. »Die werden so groß«, seufzte Cranston. »Und Lady Maude?«
Cranston zog die Brauen hoch. »Wie eine Löwin, Bruder. Wie eine Löwin. Sie sitzt da wie eine dieser großen Katzen in des Königs Tower, ein Lächeln auf dem Gesicht, der Blick stets wachsam.« Er blies die Wangen auf. »Wenn ich mich aus diesem Schlamassel nicht herauswinden kann, wird sie sich auf mich stürzen.« Er warf seinem Begleiter, der an der Unterlippe nagte, einen wütenden Blick zu. Lady Maude war so klein, daß Athelstan außerstande war, sie sich als große Katze vorzustellen, die dem mächtigen Coroner nachpirschte.
Sie erreichten die schmutzigen Gassen von Southwark; Cranston bejammerte noch immer sein drohendes Schicksal. Athelstan schlang sich Philomels Zügel um das Handgelenk und hörte nur mit halbem Ohr zu, während er sich umsah. Anfangs hatte er Southwark gehaßt, aber inzwischen spürte er, daß dieses Viertel trotz seiner offenen Abwasserkanäle und schäbigen, einstöckigen Hütten von Lebendigkeit strotzte. Die kleinen Verkaufsstände waren bereits offen, und in einer nahen Bierschenke sang jemand eine Hymne an die Jungfrau Maria. Ein Gemeindebüttel versuchte, eine junge Hure zu packen, die ihr Gewerbe auf den Stufen der Priorei von St. Mary Overy ausgeübt hatte, aber das Mädchen hob die Röcke, wackelte mit dem schmutzigen Hintern und huschte dann, kreischend vor Lachen, davon.