Die beiden bogen in die Gasse ein, die nach St. Erconwald führte. Mit einem Seufzer der Erleichterung sah Athelstan, daß die Kirche und der Platz davor leer waren. Keine Neugierigen waren zu sehen. Selbst der Wachtmeister, den Sir John hergeschickt hatte, hatte offenbar etwas Interessanteres gefunden und das Weite gesucht. Sie brachten ihre Pferde in den Stall und gingen ins Haus. Athelstan lächelte. »Meine Pfarrkinder haben offensichtlich von meinem Jähzorn gehört«, meinte er.
Bewundernd schaute er sich in Küche und Speisekammer um, wo alles geputzt, gefegt und blankgewienert war - sogar der Herd, neben dem jetzt ein Stapel Holz darauf wartete, verfeuert zu werden. Auf dem Küchentisch stand ein verschlossener Weinkrug, und der Wasserbottich war geleert, ausgeschrubbt und wieder gefüllt worden. Cranston leckte sich die Lippen, als er den Wein sah. Athelstan winkte ihn herüber. »Seid mein Gast, Sir John. Aber für mich bitte mehr Wasser als Wein.«
Geschäftig verschwand Sir John in der Speisekammer. »Die Halunken haben auch hier gute Arbeit geleistet. Alles hübsch aufgeräumt.« Er schenkte Athelstan und dann sich selbst ein. »Wirst du das Geheimnis deines Gerippes aufklären?«
»Natürlich, Sir John. Ihr wißt, daß ich deswegen nach Southwark zurückgekommen bin.«
Cranston zog eine Grimasse. »Was hast du denn vor?«
»Das weiß ich noch nicht. Wir werden abwarten.«
»Es war Mord«, stellte Cranston fest.
»Nein, Sir John; das glauben wir nur.«
Der Coroner legte die Hand auf seine Mappe und erhob sich.
»Was ist?« fragte Athelstan scharf.
Cranston zog eine kleine Pergamentrolle hervor. »Der Kurier ist gestern abend aus Boulogne zurückgekommen.« Er tippte auf das Pergament. »Der Bursche ist schnell gereist, denn ich habe ihn gut bezahlt.« Cranston tat einen tiefen Seufzer; er war außerstande, Athelstan ins aufmerksame Gesicht zu sehen. »Schlechte Nachrichten«, murmelte er. »Die Franzosen haben Benedictas Mann nicht.«
Athelstan wandte sich ab und starrte die Wand an. Gütiger Gott, dachte er, und was fühle ich dabei? Was will ich eigentlich wirklich? »Oh, verflucht!« schrie Cranston.
Athelstan drehte sich um und sah Bonaventura, der wie ein Schatten zur Tür hereinkam, vor Freude schnurrte und bettelnd zu Cranston aufschaute. Sir John wich zurück. »Hau ab, du verfluchter Kater!«
Erfreut über die Ablenkung, hob Athelstan den kampferprobten Kater auf und streichelte ihn vorsichtig, während Bonaventura, dessen Fell glatt und sauber war, weiter beschwörend den Coroner anschaute.
»Du bist gut gefüttert worden«, sagte Athelstan leise. »Ich kenne deine Sorte - Simulanten und berufsmäßige Bettler. Ab mit dir!« Er setzte den Kater vor die Tür und schloß sie fest.
»Na, was hast du vor?« bellte Cranston.
»Ich werde mich in der Kirche umsehen und die Messe lesen.
Sir John, Ihr könnt mir als Meßdiener zur Hand gehen. Ihr habt zwar schon gefrühstückt, aber ich erteile Euch Absolution.«
Sie gingen zur Kirche hinüber, und Athelstan stieß Freudenrufe aus, als er ins kühle Dunkel trat, denn auch hier war alles gefegt und geputzt worden, nachdem die Arbeiter abgezogen waren.
Frische Binsen lagen auf dem Boden des Mittelschiffs, der Lettner war wieder aufgerichtet, und was Athelstan vor allem erfreute, war der renovierte Chor. Die neuen Steinplatten leuchteten weiß, und Athelstan sah mit Anerkennung, wie präzise und sorgfältig die Steinhauer gearbeitet hatten. Auch der Altar war gereinigt worden, und irgend jemand, vermutlich Huddle, hatte den Lettner gründlich aufpoliert. Sogar im dämmrigen Morgenlicht glänzte das schwere, dunkle Holz. »Sehr gut«, murmelte Athelstan.
»Es ist noch da!« rief Cranston aus dem Seitenschiff, und Athelstan hörte, wie der Deckel des Gemeindesarges geöffnet wurde.
»Aber die diebischen Halunken haben ihre Spuren hinterlassen. Vier Fingerknochen fehlen, und drei von den Zehen! Irgendein Drecksack verdient Geld mit dem Verkauf von Reliquien.«
Athelstan zog es vor, den Sarg zu ignorieren. Wer auch immer dieses Skelett zu Lebzeiten gewesen sein mochte, er wußte, daß sie einem Mord zum Opfer gefallen und in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren umgebracht worden war. Während Cranston in der Kirche umhertrampelte, ging Athelstan in die Sakristei und legte Meßgewand und Stola in Gold an, denn nach der kirchlichen Liturgie feierte man immer noch Ostern und das Wunder des Pfingstfestes. Er füllte die Kännchen mit Wein und Wasser und mußte unwillkürlich lächeln, als er sah, daß seine Gemeindemitglieder, vermutlich angeführt von Watkin und Benedicta, alles vom Staub befreit hatten. Er deckte ein Tuch auf den Altar, holte das dicke, zerlesene Meßbuch heraus, und nachdem Cranston fromm neben ihm niedergekniet war, machte er das Kreuzzeichen und begann mit der Messe. Selbstverständlich tauchte Bonaventura wieder auf, aber er benahm sich anständig und saß neben dem mißtrauischen Coroner wie der heiligste Kater der ganzen Christenheit.
Ein guter Katerlik eben, dachte Athelstan, aber er verzog keine Miene, sondern fuhr mit der Messe fort und reichte Sir John die Heilige Kommunion in beiderlei Gestalt. Der Coroner leerte den Kelch in einem Zug.
Nachher legte Athelstan in der Sakristei die Gewänder ab. Cranston lehnte in der Tür und sah ihm zu. »Keiner aus deiner Pfarrgemeinde ist erschienen«, bemerkte er. »Weil sie nicht wissen, daß ich zurück bin, Sir John.« Athelstan hatte die Worte kaum gesprochen, als Crim hereingestürmt kam.
»Pater, ich habe gesehen, daß die Kirchtür offen war.« Enttäuscht verzog er das schmutzige Gesicht. »Ich hätte doch Meßdiener sein können!«
Cranston funkelte ihn stirnrunzelnd an, aber Crim glotzte frech zurück und streckte ihm die Zunge heraus. »Hör mal, Crim, möchtest du einen Botengang für mich übernehmen?« fragte Athelstan schnell. »Sir John, den Brief… Ihr wißt doch, den aus Boulogne.« Cranston reichte ihn herüber, und Athelstan las ihn rasch. Die Dominikaner in Boulogne sandten ihm brüderliche Grüße. Sie arbeiteten als Seelsorger in dem Gefangenenlager außerhalb der Stadt und hatten dort gründliche Nachforschungen angestellt, allerdings keine Spur von einem Gefangenen gefunden, der mit Namen oder dem Äußeren nach dem entsprach, den Athelstan suchte. Er rollte den Brief zusammen, nahm einen Penny aus der Tasche und hockte sich vor Crim nieder.
»Bring das der Lady Benedicta«, sagte er. »Auf keinen Fall darfst du es verlieren.« Er umfaßte die knochige Schulter des Jungen. »Hast du verstanden?«
»Ja, Pater.«
»Ab mit dir!«
Crim verschwand so schnell, wie er gekommen war. »Hättest du das tun sollen?« fragte Cranston. »Warum sagst du's ihr nicht selbst? Hast du Angst, Mönchlein?«
»Nein, Sir John. Aber es gibt Dinge, an die man besser nicht rührt. Ich denke, Benedicta wird allein trauern wollen. Aber kommt, wir haben anderes zu tun.«
»Wo denn?«
Athelstan bedeutete ihm, er solle sich neben ihm auf die Altarstufe setzen.
»Ich habe Euch zu danken, Mylord Coroner.«
»Wofür?«
»Dafür, daß Ihr mir den Unterschied zwischen einem echten Bettler und einem Simulanten erklärt habt.«
Cranston ließ seinen Wanst auf die Stufe sinken. »Wovon um alles in der Welt redest du, Mönch?«
»Hört zu, Sir John. Ich werde Euch erzählen, was geschehen wird.«
ELF
Athelstan verschloß die Kirchentüren; Cranston stapfte breitbeinig hinter ihm her, und auch Bonaventura folgte ihnen ein kleines Stück, als sie durch die Gassen von Southwark zum Haus des Tischlers Raymond D'Arques marschierten. Seine Frau öffnete mit verschlafenem Gesicht, als Athelstan ungeduldig an die Tür klopfte, und führte sie in die Küche. Dann ging sie zum Fuße der Treppe und rief nach ihrem Mann. D'Arques kam in einen Hausmantel gehüllt herunter; sein unrasiertes Gesicht war in Sorgenfalten gelegt. »Sir John, Bruder Athelstan, guten Morgen.«