»Sir John«, verkündete er dann, »wir müssen gehen. Benedicta, sprich mit niemandem über das, was ich dir erzählt habe, aber teile der Gemeinde mit, daß ich morgen die Messe lesen werde und alle dort sehen möchte. Ich habe etwas Wichtiges bekanntzugeben.«
»Wo willst du denn hin, Bruder?«
»Zurück zu meiner Kirche, Sir John.«
Cranston schüttelte den Kopf. »O nein, Mönch, wir haben noch Arbeit.«
»Sir John, ich muß zurück.«
Cranston stand auf und warf sich in Positur. »Glaubst du, die Stadt schläft, während wir zwischen deiner Kirche und Blackfriars hin und her rennen? Gestern nacht gab es einen Toten in der Nähe des Gasthauses ›Brokenseld‹ an der Ecke Milk Street. Der Leichnam liegt jetzt in St. Peter Chepe, und ein Urteil muß darüber gesprochen werden.« Athelstan stöhnte.
»Na, komm, Bruder.« Cranston hakte sich bei ihm unter. »Wir holen die Pferde und reiten los.«
Er brüllte Benedicta liebevolle Abschiedsworte zu und schob seinen schmallippigen Schreiber zur Tür hinaus auf die Straßen von Southwark. Sie holten ihre Pferde bei St. Erconwald ab; Philomel wurde immer störrischer und bockiger, denn es war lange her, daß er weit laufen und soviel hatte arbeiten müssen. Sie ritten hinunter zur Brücke; Athelstan versuchte, sein Mißvergnügen zu verbergen, während Cranston seiner guten Laune mit großzügigen Schlucken aus seinem wunderbaren Weinschlauch grunzend und rülpsend Nahrung gab. Strahlend schaute er umher und beschimpfte die Straßenhändler, die ihre Stände inzwischen mit Firlefanz, Gürteln, Bechern, billigen Ringen, falschen Edelsteinen, Schnallen, Rosenkränzen und kleinen Halsabschneidermessern vollgepackt hatten. Auf anderen Ständen wurden Speisen angeboten, dicke, glänzende Scheiben Fleisch und Fisch - manche davon frisch aus dem Fluß, andere mindestens zwei Tage alt, so daß sie zum Himmel stanken.
Eine Schar Gassenjungen spielte mit einem Ball zwischen den Ständen. Ein Beutelschneider auf der Suche nach leichter Beute bemerkte Sir Johns Blick und floh wie eine Ratte in einen Hauseingang. Am Pranger kurz vor der Brücke standen zwei Wasserverkäufer und mußten sich leckende Eimer über die Köpfe halten, die jeder Vorübergehende fallen durfte - zumeist mit den schmutzigen Flüssigkeiten aus der Gosse oder den großen Pfützen von Pferdepisse. Athelstan sah ein paar von seinen Gemeindemitgliedern: Pike, den Grabenbauer, mit Queraxt und Hacke auf der Schulter, und Watkin auf seinem Mistwagen, unterwegs zum Flußufer, den Karren vollgeladen mit fauligem Abfall. Cecily, die Kurtisane, stand im Eingang einer Taverne und verschwand sofort, als sie Athelstan erblickte. Alle wirkten bedrückt und ziemlich ängstlich, und der Ordensbruder war froh, daß er die Sache mit dem geheimnisvollen Skelett morgen ein für allemal erledigen konnte.
Sie überquerten die Brücke in lärmendem Gedränge. Cranston bahnte ihnen mit seiner Autorität den Weg. Es ging die Bridge Street hinauf, durch Gracechurch, vorbei an den prächtig bemalten Häusern der Bankiers in der Lombard Street und weiter in die Poultry. Hier war die Luft dick von Federn und dem Geruch von Geflügel, das ausgenommen wurde; das Fleisch wurde in Wasser getaucht, die Innereien verbrannt oder auf großen, offenen Feuern gebraten. Sogar Cranston hörte auf zu trinken und hielt sich die Nase zu. Sie kamen in die Mercery, wo Buden und Stände reicher ausgestattet und prächtiger waren; ihre Eigentümer trugen kostspielige Mäntel und Hemden, Strümpfe und Stiefel. Endlich erreichten sie Westchepe. Cranston warf sehnsüchtige Blicke auf die Schenke »Zum Heiligen Lamm Gottes«, aber Athelstan war entschlossen, seine Pflichten zu erfüllen und nach Southwark zurückzukehren; er wollte sich gründlich mit einer Idee beschäftigen, die ihm in Benedictas Haus gekommen war.
Sie banden ihre Pferde an die Stange vor St. Peter und betraten die muffig riechende, dunkle Kirche. Eine Gruppe von nervös aussehenden Männern, angeführt von einem Büttel, umstand einen Tisch am Eingang zum Mittelschiff; darauf lag ein Toter, bedeckt mit einem braunen, fleckigen Leintuch. Die Männer scharrten mit den Füßen und tuschelten unruhig miteinander, als Sir John großspurig hereinkam.
»Ihr kommt spät!« quäkte der rotgesichtige, fette Büttel. »Halt die Klappe!« dröhnte Cranston. »Ich bin Richter des Königs, und meine Zeit gehört dem König. Also, was haben wir hier?«
Der eingeschüchterte Büttel schlug das Tuch zurück. Cranston verzog das Gesicht, und Athelstan rümpfte die Nase. Ein säuerlicher Geruch stieg von der Leiche des alten Mannes auf.
In seinem Schädel klaffte eine schreckliche Wunde, und das grauweiße Haar war vom Blut dick und schwarz verkrustet. »Er heißt John Bridport«, erklärte der Büttel. »Er kam an einem Haus zwischen der Honey Lane und der Milk Street vorbei.« Der Büttel deutete auf einen ängstlich blickenden Mann. »Der da ist William de Chabham. Er hat eine Werkstatt im Obergeschoß seines Hauses, aus der ein Holzbalken herausragte. Er ist Sattler von Beruf und benutzt besagten Balken, um sein Leder daran zu trocknen.« Der Büttel schaute Cranston nervös an. »Um es kurz zu machen, Sir John: Der Balken war zu schwer beladen, geriet ins Rutschen, fiel herab und zerschmetterte Bridport den Schädel.«
»Ein Unfall!« rief der bleiche Sattler flehentlich. »Wo ist der Balken?« fragte Sir John.
Der Büttel deutete auf einen dicken, schweren Holzbalken unter dem Totentisch. Athelstan, der den Deckel des Taufbrunnens als Schreibtisch benutzte, notierte sorgfältig alle Einzelheiten auf einem Stück Pergament, das er Sir John später aushändigen würde.
»Bruder Athelstan!« Cranston schnippte mit den Fingern. »Würdest du bitte das Opfer und den Balken untersuchen?« Athelstan fluchte leise, befahl jedoch, den Balken hervorzuziehen. Er untersuchte ihn und dann auch den Kopf des Toten gründlich. »Und?« fragte Cranston.
»Nun, Mylord Coroner, wie es scheint, ist John Bridport tatsächlich auf die geschilderte Weise zu Tode gekommen.« Sir John griff mit beiden Händen in seinen Mantel und richtete sich zu voller Größe auf.
»Sattler! Hattest du Befugnis oder Erlaubnis, diesen Balken aus dem Fenster ragen zu lassen?«
»Nein, Mylord Coroner.«
»Kanntest du das Opfer?«
»Nein, Mylord Coroner.«
»Büttel, ist William de Chabham ein Mann von gutem Ruf?«
»Ja, Sir John, und diese anderen hier sind erschienen, um für sein tadelloses Verhalten zu bürgen.«
Cranston kratzte sich am Kinn. »Dann spreche ich das folgende Urteil. Dies ist kein Mord und auch kein widerrechtlicher Totschlag, sondern ein unglückseliger Unfall. Du, Meister Sattler, wirst eine Buße von zehn Shilling an das Zivilgericht zahlen. Du wirst schwören, nie wieder einen solchen Balken zu benutzen, und jeden weiteren notwendigen Schadenersatz bezahlen.«
Der Sattler zog den Kopf ein, sah aber erleichtert aus. »Und der Balken, Sir John?«
»Der muß fünf Shilling zahlen und wird dann vom öffentlichen Henker verbrannt.« Cranston warf einen Blick auf den Toten. »Hat Bridport Verwandte?«
»Nein, Sir John. Er lebte allein in einer Wohnung an der Ecke der Ivy Lane.«
»Dann ist seine Habe einzuziehen«, befand Cranston mit falschem Lächeln. »Bridport bekommt ein ehrenhaftes Begräbnis auf Kosten der Pfarrgemeinde. Hast du das, Bruder Athelstan?«
»Ja, Mylord Coroner.«
»Gut!« trompetete Cranston. »Dann ist diese Sache erledigt.« In der Milk Street reichte Athelstan ihm das Protokoll der Untersuchung. Cranstons Einladung zu einem Bier im »Heiligen Lamm Gottes« lehnte er höflich ab und machte sich auf den Rückweg nach Southwark. An einem Verkaufsstand in der Three Needle Street erstand er eine Rolle eines schwammähnlichen Stoffes und in Cornhill einen Tiegel Gesichtspuder; die alte Frau hinter dem Verkaufsstand grinste und zwinkerte ihm wissend zu. »Jedem das Seine, was, Pater?«