Erholung boten nur die Beichten der Kinder, die Athelstan immer am liebsten hatte, weil sie ihn zum Schmunzeln brachten - piepsende kleine Stimmen mit einer Liste von belanglosen Sünden. Eine der Töchter des Kesselflickers ließ ihn laut lachen: Die arme Kleine hatte einem von Pikes Söhnen erlaubt, sie zu küssen, und jetzt litt sie arge Gewissensqualen. So erpicht war sie darauf, ihren Fehltritt hervorzusprudeln, daß sie sich auf den Betstuhl stützte und nicht sagte: »Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt«, sondern statt dessen fieberhaft begann: »Küsse mich, Vater, denn ich habe gesündigt.«
Athelstan beruhigte sie und erklärte ihr, ein Kuß auf die Lippen, ganz gleich, wie lange er dauere, sei keine ernste Angelegenheit; glücklich zog das Mädchen davon. Er hörte neues Getrippel, und dann zirpte ein dünnes Stimmchen hinter dem Vorhang: »Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt.« Athelstan bedeckte lächelnd das Gesicht mit den Händen, denn er erkannte die Stimme Crims, seines Altardieners.
»Pater«, fuhr Crim mit gedämpfter Stimme fort, »ich habe mich geweigert, meine Zwiebeln zu essen.«
Athelstan nickte ernst.
»Meine Mutter hatte sie extra gekocht.«
Athelstan holte tief Luft, um nicht laut zu lachen.
»Was gibt es sonst noch, mein Junge?«
Aber Crim war seltsam stumm geworden. »Pater«, stammelte er, »ich habe sechsmal Unzucht begangen.« Athelstans Unterkiefer klappte herunter, und er merkte, wie seine Nackenhaare sich sträubten. In den bischöflichen Regeln für den Beichtvater war die Verderbtheit von Kindern nichts Unbekanntes und galt als höchst betrübliches Moralvergehen. Athelstan zog den Vorhang beiseite und schaute Crim in sein schmutziges, erschrockenes Gesicht. »Crim«, flüsterte er. »Komm herüber.« Der Junge kam zu ihm getappt.
»Crim, was redest du da? Weißt du, was Unzucht ist?« Der Junge nickte.
»Und du hast sie sechsmal begangen?« Wieder ein Kopfnicken. »Was ist Unzucht, Crim?«
Athelstan schaute dem Jungen ernst in die bekümmerten Augen. War der Junge deshalb manchmal so still und zurückgezogen? Crim schloß die Augen. »Unzucht«, piepste er, »ist ein schmutziger Akt!« Athelstan ließ die Hand des Jungen los und lehnte sich zurück. »Erzähle mir genau, was passiert ist, mein Junge.«
»Nun, Pater, Ihr wißt, daß ich für meine Mutter zum Markt gehen muß. Ich kann am schnellsten rennen, und zur Belohnung gibt sie mir immer einen Becher Wasser mit Honig.« Athelstan verstand jetzt überhaupt nichts mehr. »Was hat denn das damit zu tun, Crim?«
Der Junge wurde rot und blickte zu Boden. »Wenn ich vom Markt zurückkomme, muß ich pissen, und das tue ich draußen im Freien.«
Athelstan lachte und nahm den Jungen wieder bei der Hand. »Ist das alles, Crim?« Der Junge nickte.
»Und wieso glaubst du, das sei Unzucht?«
»Nun, Pater, meine Mutter sagt immer, Cecily treibt Unzucht und andere schmutzige Akte.«
Athelstan schüttelte den Kopf. »Aber, Crim, du pißt doch oft draußen im Freien. Was ist denn so Besonderes daran?«
Der Junge errötete noch heftiger.
»Na los, mein Junge!«
»Ich tue es auf heiligem Boden, Pater.«
»Du meinst, hier in der Kirche?«
»Nein, Pater, immer gerade dann, wenn ich an Eurem Haus vorbeikomme, muß ich, und da gehe ich dann hinter Eure Mauer und pisse in das Zwiebelbeet. Ich weiß, es ist unrecht, in den Garten eines Priesters zu machen, aber ich kann nichts dafür.«
Athelstan konnte nicht länger an sich halten; er senkte den Kopf, schlug beide Hände vors Gesicht und lachte, daß seine Schultern bebten. »Pater, es tut mir wirklich leid.«
Athelstan hob den Kopf, wischte sich die Tränen ab und packte den Jungen bei den Schultern. »Ich spreche dich los von deinen Sünden«, sagte er. »Und dies soll deine Buße sein.«
»Ja, Pater?«
»Wenn deine Mutter das nächste Mal Zwiebeln kocht, sollst du jede einzelne aufessen. Nun geh und sündige nicht mehr.« Crim rannte aus der Kirche, als sei er soeben von der allerschlimmsten Todsünde losgesprochen worden. Athelstan sah ihm nach, und immer noch schüttelten ihn Lachanfälle. Er war froh, daß die Kirche leer war; wenn jemand Crims Beichte gehört hätte, wäre der Junge zum Gespött der ganzen Gemeinde geworden. Athelstan lehnte sich zurück und döste eine Weile; er dachte über mögliche Lösungen zu Cranstons Geheimnis nach und fragte sich, ob er in Blackfriars wohl finden würde, was er suchte. Plötzlich richtete er sich auf, und ein Gedanke überlief ihn eisig. Wenn nun der Mörder in Blackfriars bereits gefunden hatte, was er suchte? Er rückte die Stola zurecht und wollte eben aufstehen, als er leise Schritte hörte. Plötzlich angespannt, setzte er sich wieder, denn in der Kirche war es jetzt ganz still. Auch draußen war alles ruhig, denn Höker, Händler und die Bewohner der Pfarrgemeinde ruhten während der heißen Stunden des Tages. Wer kam jetzt? Er hörte, wie jemand auf dem Betstuhl niederkniete.
»Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt.« Athelstan erstarrte, als er Benedictas Stimme erkannte. Er schloß die Augen und verschränkte die Hände ineinander. Es war das erste Mal, daß Benedicta zu ihm kam. Wie auch anderen in seiner Pfarrei, war es ihr vielleicht peinlich, bei ihrem eigenen Priester zu beichten, und so ging sie immer zu einem anderen. Er entspannte sich ein wenig, als er die Litanei ihrer kleinen Vergehen hörte: unbarmherzige Gedanken und Worte, verspätetes Erscheinen zur Messe, Schlafen während der Predigt. Bei dem letzten Bekenntnis streckte Athelstan ihr hinter dem Vorhang die Zunge heraus. Dann verstummte Benedicta. »Ist das alles?« fragte er leise.
»Pater, ich bin Witwe. Eine Zeitlang dachte ich, mein Mann könnte noch leben. Darüber war ich froh, aber ich war auch traurig.«
Athelstan wappnete sich.
»Ich hätte nicht traurig sein dürfen«, fuhr Benedicta fort.
»Und wenn ich mir gewünscht habe, er möge tot sein, so bekenne ich das jetzt.«
»Dann ist dir auch vergeben.«
»Wollt Ihr nicht wissen, Pater, warum ich traurig war?«
»Du mußt beichten, wie dein Gewissen es dir befiehlt, weiter nichts.«
»Ich war traurig, Pater, weil ich … seht Ihr, ich liebe einen anderen Mann. Manchmal begehre ich ihn.«
»Jemanden zu lieben ist keine Sünde.« Athelstan war sicher, daß Benedicta weitersprechen würde.
»Ich verstehe, Pater«, sagte sie. »Wenn das so ist, dann bereue ich diese und alle meine Sünden von Herzen.« Athelstan gab ihr eine kleine Buße auf und hätte sich in den Worten der Absolution beinahe verheddert. Gespannt wie eine Bogensehne saß er da, bis Benedicta aufstand und leise hinausging. Behutsam schloß sie die Tür hinter sich. Er seufzte tief und ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken. Er wußte, was Benedicta hatte sagen wollen, und er war nur allzu froh, daß sie nicht weitergesprochen hatte. Er stand auf und streckte sich; dann ging er durch den Lettner und schaute hinauf zu dem Kruzifix über dem Altar. »Pater Paul hatte recht«, sagte er leise. »Die Liebe ist etwas Schreckliches.« Eine Weile erforschte er sein Gewissen. Er liebte Benedicta! Er starrte die verrenkte Gestalt am Holzkreuz an. Würde Christus ihn verstehen? Liebte Er, der ja jedermann lieben sollte, irgendwen besonders? Athelstan rieb sich die Augen. Er dachte an die Heilige Schrift, an die Frauen, die Christus nachgefolgt waren, an die Frauen, die bei Ihm gewesen waren, als Er starb. Athelstan nahm seine Stola ab. Wenn er diesen Gedankengang weiter verfolgte, zu welchen Schlußfolgerungen würde er dann kommen? Er beugte hastig das Knie vor dem Allerheiligsten, lief dann hinaus und verschloß die Kirchentür hinter sich. Jetzt mußte er sich auf andere Dinge konzentrieren.