Endlich klopfte es an der Tür, und Norbert kam herein. »Der Pater Prior ist bereit«, gab er bekannt. »Allerdings ist er ein bißchen verärgert, weil Ihr ihm nicht gleich Bescheid gesagt habt, als Ihr gekommen seid. Die übrigen sind auch versammelt.«
»Gut«, seufzte Athelstan. Er steckte das Buch in den Beutel und reichte dem überraschten Laienbruder den Knüppel, der im Gästehaus geblieben war. »Was auch geschieht, Bruder Norbert, du bleibst bei der Sitzung mit Pater Prior und den anderen dabei. Stelle dich neben die Tür. Wenn jemand versucht zu gehen, bevor ich fertig bin« - er schaute den jungen Laienbruder scharf an -, »dann benutzt du diesen Knüttel. Selbst«, fügte er hinzu, »wenn es der Pater Prior ist.« Der Laienbruder starrte ihn mit offenem Mund an. »Bruder Athelstan, habt Ihr den Verstand verloren?«
»Tu, was er sagt«, knirschte Sir John und schwang sich den Mantel um die Schultern. »Und keine Angst, wenn Gewalt ausbricht: Sir John wird dem schnell ein Ende machen.«
»Noch ein letztes«, sagte Athelstan. »Wenn alles erledigt ist, Bruder Norbert - und das wird es früher sein, als du denkst, dann wirst du Stillschweigen schwören müssen. Du darfst niemandem erzählen, was du in jenem Raum zu sehen und zu hören bekommst.«
Sie verließen das Gästehaus und gingen hinüber in den Kreuzgang; hier saßen jetzt überall die Ordensbrüder auf den Bänken und auf der niedrigen Ziegelmauer und genossen den schönen Sommermorgen. Am Sonntag war die Gemeinschaft von ihren Alltagspflichten befreit. Das Gemurmel ihrer Gespräche verstummte, als Cranston mit seinem Gefolge auf dem Weg zum Gemach des Priors an ihnen vorbeirauschte. Athelstan warf einen Blick auf den kleinen Springbrunnen in der Mitte des Kreuzgartens und mußte plötzlich an sein Noviziat denken — wie er dort mit den anderen gesessen und geschwatzt hatte, ohne nur einen Augenblick lang zu ahnen, was die Zukunft für ihn bereithielt. Nun war er wieder hier, ein Mitglied des Dominikaner-Ordens mit allen Gelübden und im Begriff, einen Bruder zur Rede zu stellen und zu demaskieren, der für den Tod von vier Mönchen verantwortlich war, von dem bösartigen Überfall auf ihn selbst gar nicht zu reden. Athelstan blieb stehen und schaute zum Himmel hinauf, der immer heller wurde, je höher die Sonne stieg. Die Wolken, die sich in der Nacht zusammengeballt hatten, verwehten allmählich wie Rauch. Cranston blieb stehen und sah sich um.
»Komm schon, Bruder; worauf wartest du?«
»Auf nichts, Sir John; ich erinnere mich nur an etwas. Ist es nicht merkwürdig, daß uns die Vergangenheit immer lieblicher erscheint als die Gegenwart?«
»Na komm, Bruder«, drängte Cranston sanft, »wir haben in dieser Sache keine Wahl.« Er lächelte schief. »Um der Liebe Gottes willen, Athelstan: Denk an die, die jetzt tot sind, brutal ermordet. Ihr Blut schreit nach Rache, und wir tun Gottes Werk ebenso wie das des Königs.« Athelstan nickte und folgte Sir John ins Gebäude und durch den steingepflasterten Korridor zum Zimmer des Pater Prior. Pater Anselm und die übrigen waren bereits versammelt. »Du hättest uns melden sollen, daß du da bist, Bruder«, erklärte der Prior vielsagend.
»Warum?« erwiderte Athelstan knapp und mit Schärfe. »Damit der Mörder hier einen weiteren Anschlag auf mein Leben unternehmen kann?«
Der Prior machte runde Augen vor Staunen und Ärger. »Bruder Athelstan, eine solche Anschuldigung verlangt Beweise.«
»Die haben wir«, erklärte Cranston. Er schaute in die Runde derer, die er seine geheimniskrämerischen Brüder nannte: Niall und Peter, hin und her gerissen zwischen Streitsucht und Neugier, und die Inquisitoren mit ihren ernsten Gesichtern. Er sah, daß William de Conches bereits Platz genommen hatte und nervös auf der Tischplatte trommelte. Eugenius funkelte Athelstan an, und Bruder Henry stand mit verschränkten Armen da und starrte auf den Tisch. »Beweise habt Ihr, sagt Ihr?« stichelte Eugenius. »Was denn für Beweise, Sir John? Dieses Generalkapitel ist zunichte gemacht, weil wir herumsitzen und darauf warten, daß Ihr diese Angelegenheit aufklärt. Pater Prior, wir warten jetzt nicht länger. Soll Cranston sagen, was er zu sagen hat, und dann sind wir fort.«
Der Coroner richtete sich zu voller Größe auf. »Hinsetzen!« donnerte er. »Glaubt mir, Bruder, wir werden Euch nicht lange aufhalten.«
Die Dominikaner schauten den Pater Prior an, um zu hören, was er dazu meinte. Er nickte nur. »Ja, ja«, murmelte er. »Tut, was Sir John sagt. Wir wollen uns setzen.« Sie nahmen an dem langen, polierten Tisch Platz, Pater Prior an einem Ende, Cranston und Athelstan am anderen. Einwände wurden erhoben gegen Bruder Norberts Anwesenheit und gegen den Knüttel, den er bei sich trug, aber auch hier setzte Cranston sich brüllend durch. Der Prior zuckte die Achseln, klopfte Schweigen gebietend auf den Tisch und funkelte Athelstan an.
»Bruder«, begann er, »in einer halben Stunde versammeln wir uns zur Feier des heiligen Hochamts. Der Großinquisitor und Bruder Eugenius haben entschieden, daß Bruder Henry von Winchesters Schriften keinerlei Ketzerei enthalten, und die Brüder Niall und Peter erklären, sie können aufgrund der Heiligen Schrift und der Überlieferung die Wahrheit dessen, was er schreibt, nicht bestreiten.« Der Prior rieb sich das müde, zerfurchte Gesicht. »Wenn du also nicht klar und umfassend erklären kannst, wie die schrecklichen Todesfälle zustande gekommen sind, dann werde ich die Sitzung des Generalkapitels für beendet erklären, wir werden die Messe feiern, und jeder wird seiner Wege gehen. Hast du verstanden?«
»Ja, Pater Prior.« Athelstan nahm den Lederbeutel, zog das Buch heraus und schob es über den Tisch zum Prior hinüber. »Lest! Schlagt an der Stelle auf, die das purpurne Seidenband markiert.«
»Warum soll ich das lesen?«
Alle waren verstummt und schauten Athelstan an. »Ihr sollt es lesen, Pater Prior«, verkündete Cranston und erhob sich; »weil es beweist, daß unser junger Theologe hier, Bruder Henry von Winchester, ein Lügner, Dieb und Mörder ist.«
Der beschuldigte Dominikaner lehnte sich an den Tisch. Erbost schaute er Cranston an, dann das Buch, und seine Hand schoß vor; er hätte das Buch an sich gerissen, wenn Bruder Norbert sich nicht vorgebeugt und ihn hart aufs Handgelenk geschlagen hätte.
Cranston grinste den jungen Laienbruder an. »Gut gemacht, Norbert, mein Sohn. Wenn du je aus Blackfriars weggehst, kann ich dir einen guten Posten bei meiner Garde zusichern.«
Athelstan blieb stumm sitzen und ließ den Coroner fortfahren, denn ihm tat es im Herzen weh, daß er hier im großen Kloster von Blackfriars einen Dominikanerbruder des Mordes an vier Mitbrüdern anklagen sollte. Henry von Winchester war bleich geworden; seine dunklen Augen blickten starr wie die eines gefangenen Tieres.
»Du bist ein Lügner«, bezichtigte ihn Cranston, »weil du Behauptungen aufstellst, die falsch sind. Du bist ein Dieb, weil du das Werk der Hildegarde von Bingen gestohlen hast, einer deutschen Äbtissin, die vor hundertzwanzig Jahren lebte und eine glänzende Abhandlung über die Frage geschrieben hat, weshalb Gott Fleisch geworden sei. Eine originelle, einleuchtende Abhandlung, die damals zurückgewiesen wurde.« Cranston blickte grinsend in die Runde der Dominikaner. »Weil es sich nicht gehörte, daß Frauen Spekulationen über die göttliche Wissenschaft der Theologie anstellten, wurden ihre Schriften vergraben, ja sogar vernichtet. Aber du, Bruder Henry, hast eine Abschrift gefunden. Du hast sie Wort für Wort abgeschrieben und als eigene Arbeit ausgegeben. Du glaubtest, man würde dich nicht entlarven. Es gibt nur noch wenige Abschriften von Hildegardes Werken. So bist du nach Blackfriars gekommen, um die Angelegenheit mit den Brüdern Niall und Peter zu erörtern, während unsere Freunde von der Inquisition zuhörten.«
Cranston stand auf. »Du hast nur einen Fehler begangen. Bruder Callixtus war kein Theologe, aber er hatte, wie mein guter Freund Athelstan mir erzählt hat, ein wunderbares Gedächtnis. Nun gab es hier in der Bibliothek von Blackfriars ein Exemplar von Hildegardes Werken. Deine Abhandlung erweckte eine Erinnerung bei Callixtus, und er erzählte seinem guten Freund Alcuin davon.« Cranston hielt inne, denn Henry von Winchester beugte sich vor und deutete mit dem Finger auf ihn.