»Pater Prior, dies war der seltsamste Fall, den ich je untersucht habe. Ich hatte keinerlei Beweis. Der einzige Hinweis war dieser Name.« Er lächelte. »Sie muß eine große Dame gewesen sein, eine tiefsinnige Denkerin. Ihre Werke sollten viel mehr gelesen und studiert werden. Vielleicht war sie es ja, die uns geleitet hat.«
»Was passiert jetzt mit ihm?« fragte Cranston unvermittelt. Der Prior stand auf und nahm das Buch in beide Hände. »Man wird ihn der päpstlichen Inquisition in Rom oder Avignon übergeben. Glaubt mir, Sir John, wenn die dort mit ihm fertig sind, wird das Grauen eines Todes am Galgen hier in London dagegen wie ein Vergnügen erscheinen.« Der Prior ergriff Athelstans Hand. »Du kannst zurückkommen, wann immer du möchtest. Deine Buße ist wahrlich beendet.« Er wandte sich rasch ab. »Aber ich vergesse mich. Sir John - was ist mit dem Rätsel, das Ihr zu lösen hattet?«
»Erledigt«, antwortete Cranston großspurig. »Wie hat der heilige Paulus gesagt: ›In der Spanne eines Lidschlags‹.«
Der Prior wandte sich an Athelstan. »Dann wirst du den Brief nicht mehr brauchen?«
»Ich habe ihn bereits vernichtet, Pater.«
Der Pater Prior lächelte beiden zu und ging hinaus.
*
Cranston und Athelstan kehrten mit dem Boot nach Southwark zurück. Stolz wie ein Pfau beharrte der Coroner darauf, Athelstan nach St. Erconwald zu begleiten. Er schwatzte wie eine Elster und erzählte so laut, daß der halbe Fluß zuhören konnte, was er mit den tausend Kronen anzufangen gedachte. Seine Beredsamkeit wurde durch den wunderbaren Weinschlauch immer weiter gefördert. Dennoch behielt er Athelstan fest im Auge; er spürte, wie bedrückt der Ordensbruder über die Ereignisse in Blackfriars war. Athelstan starrte düster über den Fluß, der in sonntäglicher Mittagsstille lag; nur gelegentlich sah man eine Barke oder ein Fährboot auf dem Weg hinunter nach Westminster. Sie landeten bei St. Marys Wharf und wanderten durch die Straßen und Gassen von Southwark, die an diesem warmen Sommernachmittag ebenfalls ungewöhnlich still und ruhig dalagen.
»Faules Pack!« bemerkte Cranston. »Wahrscheinlich schlafen sie alle noch ihren Rausch vom Vormittag aus.«
»Ja, Sir John, es ist furchtbar, was manche Leute sich so in die Kehle schütten.«
Cranston schaute ihn mit schmalen Augen an und schob den wunderbaren Weinschlauch tiefer unter den Mantel. Auch St. Erconwald lag ruhig und friedlich da. Die Kirchentreppe war verlassen, und auf dem Friedhof und in dem kleinen Garten am Pfarrhaus war es still bis auf das Summen der Bienen zwischen den wilden Blumen, die dort wuchsen.
Athelstan vergewisserte sich, daß alles an Ort und Stelle war. Das Pfarrhaus war verschlossen, und Philomel fraß in seinem Stall; also hatte Watkin seine Aufgaben gewissenhaft erfüllt. Ursulas riesige Sau hatte den letzten Rest Kohl gefressen. Athelstan fluchte laut.
»Du hast doch noch deine Zwiebeln«, stellte Cranston fest. Athelstan dachte an Crims Beichte und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Kommt, Sir John, wir schauen mal die Kirche an.« Er schloß die Tür auf und blieb im Vorraum stehen. »Seltsam«, sagte er. »Nicht wahr, Sir John?«
Cranston stand hinter ihm und ließ den wunderbaren Weinschlauch von den Lippen sinken.
»Wovon sprichst du, Bruder? Du bist wirklich in einer sonderbaren Stimmung.«
Athelstan ging durch die dunkle Kirche und hörte, wie der Klang seiner Schritte die heilige Stille zerbersten ließ. Auf halbem Weg blieb er stehen und schaute zu dem Gemeindesarg hinüber, der leer im Querschiff stand.
»So vieles ist hier geschehen«, sagte er leise. »Freude, Schmerz, Zorn … Mord. Ein seltsamer Ort, Sir John.« Cranston nahm noch einen Schluck aus dem Weinschlauch. Er mußte an die Einladung denken, die der Prior ausgesprochen hatte. Oh, lieber Gott, betete er, laß Athelstan nicht weggehen. Er darf mich nicht verlassen. Er schaute auf die breiten Schultern des Ordensbruders und merkte plötzlich, daß er diesen seltsamen Pfaffen liebgewonnen hatte. Athelstan schritt durch den Lettner in den Chor hinauf.
»Ja«, flüsterte er, »alles ist in Ordnung.« Er tappte mit der Sandale auf den Steinboden. »Wunderschön. Endlich fängt es an, wie eine Kirche auszusehen.«
Er setzte sich auf die Altartreppe und wäre beinahe sofort wieder aufgesprungen, als Cranston schrie: »Oh, dieser verdammte Kater ist wieder da!«
Bonaventura war mit krummem Rücken und peitschendem Schwanz aus dem Dunkel hervorgekommen und rieb sich jetzt am Stiefel des Coroners.
Athelstan erhob sich. »Komm her, du Ritter der Gasse«, murmelte er und streichelte den Kater, während ihm die Gedanken wie ein Mühlrad im Kopf herumgingen. Die Gesichter der Inquisitoren, Pater Prior und seine Tränen, Raymond D'Arques und sein Streben nach Vergebung, Fitzwolfe und sein satanisches Treiben, Benedicta, die flüsternd von ihrer Liebe sprach.
Cranston warf seinen Mantel auf die Treppenstufe und setzte sich neben ihn. Er beobachtete den Ordensbruder aufmerksam, wie er mit halbgeschlossenen Augen dasaß und geistesabwesend den verfluchten Kater streichelte. »Wer hätte das gedacht«, sagte er leise und versuchte, Athelstans Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Was denn, Sir John?«
»Na, Henry von Winchester, ein Theologe. Wer hätte gedacht, daß er ein Wässerchen trüben könnte.«
»Erinnert Ihr Euch an die Versuchung Christi, Sir John? Sogar der Satan kann die Schrift zitieren, und er hat die häßliche Angewohnheit, in der Verkleidung des Lichtengels zu erscheinen.«
»Wirst du fortgehen?« fragte Cranston unvermittelt. »Der Prior hat gesagt, deine Buße ist vorüber.«
Athelstan lächelte nur.
»Na, was nun, du verdammter Mönch?«
»Sir John, mein Entschluß steht bereits fest. Es führen viele Wege zur Heiligkeit.« Er grinste breit. »Und der meine seid Ihr.«
Cranston rülpste, und das Geräusch hallte durch die Kirche wie ein Donnerschlag. Bonaventura regte sich und schaute neugierig zu dem Coroner auf. Cranston erhob sich. »Ich werde jetzt zu diesem diebischen Dreckskerl in der ›Schenke zum Geschecktem gehen. Athelstan, du solltest mitkommen. Wir müssen die Entdeckung der Wahrheit feiern.« Er schaute zu Athelstan hinunter. »Ach, übrigens, Bruder, der Prior hat da etwas von einem Brief gesagt, den er dir gegeben hätte. Du hast geantwortet, du brauchtest ihn nicht mehr, weil ich das Rätsel gelöst hätte.« Athelstan sah ihn an. »Sir John, Ihr dürft nicht zornig sein. Ich habe mich gefragt, was passieren würde, wenn ich mich irren sollte. Meine Eltern hatten einen Bauernhof, und Francis ist tot; der Hof wurde verkauft, und der ganze Erlös ist dem Orden zugeflossen.« Er holte tief Luft. »Ich habe den Pater Prior um ein Darlehen für diesen Besitz gebeten. Er gab mir einen Brief an die Bank des Ordens in der Lombard Street, der mich ermächtigte, eintausend Kronen abzuheben, wenn ich mich geirrt hätte.« Er zuckte die Achseln. »Ich mußte ja sichergehen.«
Cranston stampfte auf und wandte sich heftig zwinkernd ab, damit Athelstan nicht sah, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. Endlich drehte er sich wieder um, bückte sich und hob seinen Mantel auf. Dann schaute er Athelstan in die Augen.
»Du bist ein komischer Hund, Mönch.«
»Ich weiß, Sir John. Das liegt an meiner Gesellschaft.« Cranston warf sich den Mantel über die Schulter und stolzierte den Mittelgang hinunter.
»Ich bin dann im ›Gescheckten‹«, rief er über die Schulter. »Laß mich nicht warten! Ich kenne euch geizige Pfaffen! Ihr habt's immer gern, wenn andere euch das Ale spendieren.« Er marschierte hinaus und warf die Tür krachend hinter sich zu.
Athelstan lächelte, gab Bonaventura einen Kuß zwischen die Ohren und schaute sich im Chor um. Plötzlich erblickte er Huddles neues Bild, das mit breiten, kräftigen Holzkohlestrichen an der Wand entworfen war. Er schaute genauer hin. »Was, zum …?« Er setzte Bonaventura auf den Boden, nahm ein Stück Zunder, zündete eine Kerze an und betrachtete das Bild aus der Nähe.