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Athelstan schloß die Augen und murmelte ein Gebet. Das letzte, was er wollte, war eine Reliquie. Er glaubte nicht, daß Gottes Wille von Knochensplittern oder Fleischresten abhing.

»Woher weißt du, daß es ein Märtyrer ist?« fragte er matt. »Jemand könnte die sterblichen Überreste auch einfach hier verscharrt haben.«

Seine Gemeindemitglieder starrten ihn erbost an; sie waren wild entschlossen, sich nicht um ihren Heiligen und Märtyrer bringen zu lassen.

»Natürlich ist es ein Märtyrer.« Pike ergriff das Wort, unversehens in schöner Eintracht mit Watkin. »Hört, Pater, Ihr habt doch schon manchen Leichnam gesehen; man schmeißt sie einfach in ein Loch und läßt sie da liegen. Der hier ist aber sorgfältig hingelegt worden, mit dem Kopf nach Osten.«

»Und das Kreuz!« krähte Ursula triumphierend. »Vergeßt das Kreuz nicht!«

»Das stimmt, Pater«, erklärte Benedicta leise. »Wem auch immer dieses Skelett gehören mag, und wer er oder sie auch war - diese Person wurde jedenfalls mit Respekt hier begraben und zum Zeichen der Ehrerbietung mit dem Kreuz versehen.«

Athelstan schaute hilflos in die Runde. »Concedo«, murmelte er auf Lateinisch. »Ich gestehe, daß die Möglichkeit besteht. Aber wer ist es, und warum hier?«

»Das ist ein Märtyrer«, erklärte Mugwort. »Und wißt Ihr was, Pater, wahrscheinlich wurde er von den Persern getötet.«

»Von den Persern, Mugwort? Die Perser waren noch nie in England.«

»Doch, waren sie doch!« schrie Tab, der Kesselflicker. »Ihr wißt doch, Pater - dieselben Mistkerle, die Jesus ermordet haben. Als sie ihn umgebracht hatten«, fuhr der Kesselflicker fort, »kamen sie her, töteten jeden armen Hund, der an Jesus glaubte, und plünderten die Klöster aus.« Selbstbewußt schaute er sich um. Er war stolz auf das bißchen Schulbildung, die er besaß, und konnte nie der Gelegenheit widerstehen, damit zu prahlen.

»Römer«, widersprach Athelstan. »Die Römer sind in England eingefallen. Ja, und als der christliche Glaube sich hier verbreitete, töteten sie die, die an Christus glaubten. Männer wie St. Alban, dessen heiliger Leichnam nördlich von London in einer eigenen Kirche liegt.« Er sah die Enttäuschung in Tabs Augen. »Aber vielleicht hast du recht, Tab. Die Wikinger, die viel später kamen, waren tatsächlich in London. Sie haben ebenfalls Christen ermordet, und weiß Gott, dies könnte eines ihrer Opfer sein.« Er schaute in die Grube. »Aber wir wissen nicht, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Also«, fuhr er fort, »Pike, Huddle, Watkin, nehmt das Skelett vorsichtig heraus.« Er deutete durch das Kirchenschiff zum Gemeindesarg, einer großen Eichenholzkiste, die in einem der Querschiffe stand. »Legt die Gebeine dort hinein, und dann wollen wir sehen, was wir finden können.« Die auserwählten Gemeindemitglieder hoben das Skelett langsam und ehrfürchtig an, als sei es der heiligste Gegenstand unter der Sonne, und die übrigen, auch die Bauarbeiter, knieten nieder und bekreuzigten sich. Alle schraken auf, als Bonaventura, der sich in die Kirche geschlichen hatte, plötzlich erkannte, daß die weggeräumten Bodenplatten Ratten und Mäuse aufgestört hatten, und nun wie ein Geschoß aus schwarzem Fell quer durch den Chor sauste, um sich auf seine Beute zu stürzen. »Na los!« drängte Athelstan.

Das Skelett wurde auf der Segeltuchplane aus der Grube gehoben. Athelstan achtete nicht auf das Protestgeflüster seines Gemeinderates; er untersuchte die Gebeine und bemerkte, wie zart und weiß sie waren. Behutsam drehte und wendete er Schädel und Rippen, aber er fand keine Spur von Gewalt.

»Seltsam«, murmelte er. »Was denn, Pater?«

»Nun, ich bin kein Arzt, aber gar so alt kann das Skelett nicht sein. Seht doch, wie fein und fest die Knochen noch sind. Ich vermute, es handelt sich um eine Frau, und nach allem, was ich aus der römischen Märtyrologie noch weiß, sind die meisten eines barbarischen Todes gestorben, durch Kreuzigen, Hängen, Pfählen oder Enthaupten. Dieses Skelett aber ist unbeschädigt.«

Er hätte den Schädel gern noch etwas genauer betrachtet, aber die Pfarrkinder drängten sich jetzt allzu dicht um den Sarg. Er winkte Tab. »Geh hinunter und hol den Büttel, Master Bladdersniff«, befahl er. »Du wirst ihn in einer der Bierschenken finden.« Athelstan betrachtete noch einmal das Skelett. »Und dann Culpepper, den Arzt. Sein Haus steht an der Ecke der Reeking Alley. Er mag alt sein, aber er ist erfahren.«

Dann scheuchte er alle zur Kirche hinaus und befahl den Arbeitern, weiterzumachen und die verlorene Zeit aufzuholen. Eine Zeitlang standen die Gemeindemitglieder noch draußen in der Sonne und plauderten aufgeregt, während Athelstans Stimmung sich immer weiter verdüsterte. Ihm schwante, was nun passieren würde. In Scharen würden die Leute zur Kirche strömen; man würde Wunder erwarten, sich um Reliquien balgen, und die alltägliche Ruhe in seiner Pfarrei wäre dahin. Die Fälscher würden folgen, die Ablaßhändler aus Avignon und aus Rom, erpicht darauf, die Angst der Menschen zu Geld zu machen. Dann die Reliquienhändler, wie immer die Taschen voller Müll, und die Reliquienkäufer - Leute, die gutes, hartes Silber für die Fingerglieder eines Heiligen oder für einen Splitter vom Schädel bezahlten. Und schließlich die professionellen Pilger und anderen religiösen Eiferer, die ihr Leben in einem Zustand ähnlich dem der Hysterie verbrachten.

Athelstan entfernte sich von der Gruppe, und Benedicta folgte ihm. Er blieb stehen und sah sich nach der Kirche um.

»Wie alt ist das Gebäude?« fragte sie; sie ahnte, woran er dachte.

Athelstan schaute zu den schmutziggrauen Mauersteinen des verwitterten Kirchturms hinauf.

»Ich weiß es nicht genau«, sagte er. »Aber zur Zeit König Stephens hat eine große Feuersbrunst hier jedes Haus dem Erdboden gleichgemacht. Die Kirche kann also frühestens unter der Herrschaft seines Nachfolgers, König Heinrich II., entstanden sein.« Athelstan nagte an seiner Lippe und versuchte, sich an seinen Geschichtsunterricht zu erinnern. »Das war vor ungefähr zweihundert Jahren.« Er lächelte die Witwe an. »Und bevor du fragst, Benedicta: Es gibt keine Karten und Bücher - sie sind alle verschwunden. Ich bin ja erst seit kurzem hier, und bevor ich kam, wurde diese Kirche von reisenden Kuraten oder Wanderpriestern betreut.«

»Und davor?« fragte Benedicta.

Athelstan erinnerte sich vage an die Skandalgeschichten, die er gehört hatte, und schaute hinüber zu seinem Gemeinderat.

»Watkin!« rief er. »Auf ein Wort, bitte!«

Der Küster kam geschäftig herüber, sein Gesicht glänzte vor Aufregung.

»Hör mal, Watkin«, sagte Athelstan knapp, »wir dürfen in dieser Sache nicht den Kopf verlieren. Was weißt du über die Geschichte dieser Kirche? Vor allem über euren letzten Pfarrer?«

Der Mann kratzte sich am Kopf, befingerte die große Warze an seiner Nase und schaute Athelstan betreten an. »Nun, Pater, die Kirche war immer schon hier.«

»Und euer letzter Pfarrer?«

Watkin bog die Mundwinkel nach unten. »Ein seltsamer Kerl, Pater.«

»Wie meinst du das?«

Wieder kratzte sich Watkin am Kopf und schaute zu Boden, als suche er dort etwas. »Na ja, er hieß William Fitzwolfe, war einer von Euern Wanderpredigern, ein Gauner und ein Stutzer. Er benutzte St. Erconwald als Spielhalle und hielt hier sonderbare nächtliche Versammlungen ab.«

»Zum Beispiel?«

»Ihr wißt schon, Pater - die Galgenmänner.«

»Du meinst Zauberer?«

»Ja, Pater. Aber dann ist er verschwunden und hat alle Akten und Bücher der Kirche mitgenommen. Es hieß, das Erzdiakoniegericht sucht ihn, weil er sich mit Frauen vom Schlage der jungen Cecily eingelassen hat.« Watkin scharrte mit seinen großen, schmutzigen Stiefeln. »Er war ein schlechter Mensch, Pater. Er soll hinter viel Bösem hier gesteckt haben: falsche Maße in den Schenken, die Beschäftigung von Meerjungfern.« Er warf einen Seitenblick auf Benedicta. »Prostituierte, Huren … so nennen wir sie.«