Rita Mae Brown
Die Sandburg
Aus dem sich lichtenden Nebel tauchte ein Schild mit einem dicken roten Krebs auf, das an weißen Scharnieren befestigt war.
«Jesus.» Mutter riss das Steuer herum. Ihre Schwester Louise wies sie scharf zurecht. «Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen.» «Hab ich nicht, Hohlkopf, ich hab den Namen seines Sohnes gebraucht.» «Die Heilige Dreifaltigkeit, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Gilt für alle drei.» «Dies ist ein Ausflug ans Meer. Wenn ich Religionsunterricht will, geh ich in die Kirche.»
«Das ist es ja eben, oder?», antwortete Louise selbstgefällig. «Du bist Lutheranerin, das ist die Strafe Gottes. Sonst würdest du in der einzig wahren Kirche beten.»
Mutter wich dem Köder zu einem Streit aus, den ihre ältere Schwester - um wie viel älter, auch das war ein ewiges Streitobjekt - ihr hinwarf, und zuckte die Achseln. «Gott wird mir vergeben, das ist sein Beruf.»
Louise, die steif und fest behauptete, Mitte vierzig zu sein, verschränkte die Arme.
Zweiundfünfzig oder dreiundfünfzig kam der Wahrheit näher.
Ich war vom Herumreißen des Steuers aufgewacht und meldete mich zu Wort.
«Wie lange noch? Wann sind wir da?»
«Nicht mehr lange.» Mutter wich einer klaren Ansage aus.
«Eine Dreiviertelstunde. Wenn sich der Nebel lichten würde, ging's schneller.»
Louise grauste davor, im Nebel zu fahren, und recht hatte sie.
Mutter grauste vor nichts. Das dachte ich zumindest mit sieben. Mutter saß nämlich am Steuer von Tante Wheezies neuem schwarzen Nash mit langweiliger grauer Innenausstattung. Ich konnte das Auto nicht ausstehen, aber ich behielt meine Meinung für mich. Wie konnte man bloß ein Auto fahren, das wie eine Küchenschabe aussah? Schon mit sieben war ich technikbegeistert, was meinen Vater beglückte und meine Mutter ergötzte. Leroy, der noch schlief neben mir, zeigte, obwohl er ein Junge war, kein Interesse für Motoren. Er war im Juni acht geworden. Ich würde dieses fortgeschrittene Alter erst im November erreichen, und an diesen paar extra Monaten hatte er seine Freude, an Autos dagegen nicht. «Ich liebe die Chesapeake Bay.» Mutter lächelte, als das erste Rosa am Horizont auftauchte; der Nebel wurde stellenweise dünner. «Wheeze, weißt du noch, wie Tante Doney und Onkel Jim uns am vierten Juli hierher mitgenommen haben? Ich muss in Nickels Alter gewesen sein.»
Louise strahlte. «Mit dem vielen Leinen und Tüllzeugs, in das sie gehüllt war, sah
Tante Doney aus wie ein Araber.»
«Sie hatte so helle Haut», bemerkte Mutter.
«Ich werde nie vergessen, wie du und ich braun geworden sind und sie einen Anfall gekriegt hat. Wir sähen wie Landarbeiter aus, hat sie gesagt.» «Lieber wie Landarbeiter als wie 'n Kadaver.» Mutter hatte das Gefühl, in jedem Lebensabschnitt von irgendwem gesagt gekriegt zu haben, was sie zu tun hatte und wie, und Tante Doney war da keine Ausnahme gewesen. «Vielleicht hatte sie ja nicht ganz unrecht, aber wir waren damals Teenager, und Coco Chanel ersann die Mode, im Sommer Weiß mit Braungebrannt zu tragen. Oh, weißt du noch, das französische Ringelhemd, das ich damals hatte? Blauweiß gestreift. Ich fand es einfach umwerfend.» «War es auch.»
«Drum hab ich's dir auch nie geliehen. Du hättest es sowieso zerrissen oder bekleckert. Juts, du bist manchmal so ungestüm. Wenn man dir beim Tanzen bloß zuguckt, ist man schon ganz erledigt.»
«Mutter, wann seid ihr zwei mit Tante Doney und Onkel Jim hier gewesen?» «Ich glaube, das erste Mal war 1912. Hat 'ne Ewigkeit gedauert, die Fahrt. Es gab eine Eisenbahnverbindung, man konnte mit dem Zug nach St. Mary's fahren. Wir sind eine ganze Woche geblieben.»
Um mich an etwas zu erinnern, was ich längst wusste, weil ich Geschichte wirklich gern mochte, sagte Tante Louise: «Einige reiche Leute hielten sich Autos als Spielerei. Man fuhr mit der Straßenbahn, mit dem Zug oder mit dem Pferdewagen. Hatte nicht Mrs. Chalfonte das erste Auto in Runnymede?» «Nein, das war ihr Bruder. Der Bruder, der im Krieg gefallen ist», antwortete Mutter.
«Im selben Krieg wie PopPop?», fragte ich.
«Im selben Krieg», bestätigte Tante Louise. «Ich bete zu Gott, dass es nie wieder einen gibt. Dass es der Krieg zur Beendigung aller Kriege war.» «Denkste.» Mutter ging vom Gas, um eine S-Kurve zu nehmen. Ein Lastwagen mit Holzverschalung an den Seiten, um die Heuladung festzuhalten, schlingerte uns entgegen.
«Der Zweite Weltkrieg ist immer noch der Erste Weltkrieg.» Tante Louise sah aus
dem Fenster; die lichten Reste des Nebels leuchteten jetzt rosa.
«Wieso?»
«Die Streitfälle wurden beim ersten Mal nicht geklärt.» Tante Louise, die sich nicht sonderlich für Geschichte interessierte, verfolgte aber die aktuellen Ereignisse, und dieses waren in ihren Augen aktuelle Ereignisse. «Krieg wird es immer geben. Die Menschen bringen sich nur zu gerne gegenseitig um», erklärte Mutter kategorisch.
«Wenn die Völker der Welt Christus annehmen würden, dann wäre es mit Krieg für immer vorbei.»
«Tante Wheezie, wie können sie Christus annehmen, wenn sie ihren eigenen Gott haben?»
«Sie sind im Irrtum.» Eine Äußerung voller Entschiedenheit und Überzeugung. «Oh.» Ich drängte nicht weiter, vor allem, weil Religionen mich viel weniger fesselten als Pferde, Autos und Geschichte.
«Lasst uns wieder in demselben Lokal Mittagessen», schlug Mutter vor. «Das ist eine Dreiviertelstunde von St. Mary's.» Tante Louise meinte den Bezirk an der Südspitze von Süd-Maryland. Die Kleinstadt dort hieß St. Mary's City. «Du hast recht. Okay, Nick, halt die Augen auf, bis du noch mal so ein Schild siehst, da machen wir dann auf dem Heimweg halt und essen. Wir können nicht den ganzen Tag hierbleiben, deswegen sind wir ja so früh losgefahren. Aber ich hab die Bucht so gern, wenn die Sonne aufgeht, wenn die Vögel herumfliegen und sich miteinander unterhalten. Und jetzt im August kommen die Blesshühner reingeflogen, um Rast zu machen.»
Blesshühner waren eine eingewanderte Vogelart. Im Winter hielten sich auch andere Vögel in der Bucht auf, alles in allem über eine Million. «Juts, Vögel unterhalten sich nicht miteinander.» Louise schüttelte den Kopf über ihre wunderliche kleine Schwester.
«Tun sie wohl. Wir verstehen sie bloß nicht.» Sie atmete ein und wechselte geschwind das Thema, weil Louise mitunter halsstarrig werden konnte und heute jetzt gerade davor war. «Meinst du, Tante Doney könnte die Fahrt schaffen?» «Nach St. Mary's County?»
«Ja. Wir könnten ihr den Rücksitz so herrichten, dass sie schlafen kann. Es gibt
Rollstühle zum Zusammenklappen.»
«Geht nicht. Die kann man im Sand nicht schieben.»
Mutter seufzte. «Du hast recht.»
Diese Worte waren mehr als alle anderen Musik in Louises Ohren. «Wie alt ist Tante Doney?», fragte ich. «Achtundneunzig», antwortete Louise.
«Oh.» Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber ich wusste, dass der mütterlichen Seite unserer Familie in aller Regel ein langes Leben beschieden war. Wir hatten Bibeln, die bis in das Jahr 1620 zurückgingen, und in denen waren in verschiedenen schönen Handschriften die Geburts- und Sterbetage unserer Vorfahren vermerkt. Viele Männer waren im Krieg gefallen, aber die Frauen, die die Kindheit überlebten, schienen nahezu unsterblich. Tante Doneys Bruder lebte allerdings noch. Er hatte im Bürgerkrieg gekämpft, damals war er nicht viel älter gewesen als ich. Auch er saß im Rollstuhl. Das machte mich nachdenklich, und ich fragte mich, ob man zu lange leben konnte.
Mutter sah in den Rückspiegel. «Der Junge kann sogar bei einem Gewitter durchschlafen.»
Louise senkte die Stimme. «Er schläft viel, seit Ginny tot ist.» Ihre Tochter Ginny war im Februar 1952, vor sechs
Monaten, mit dreiunddreißig Jahren gestorben. Leroy hatte viel geweint. Alle hatten geweint, auch Leroys Vater, Marineinfanterist bei der Sechsten Division und Kriegsheld in Okinawa. Das hatte mich erschüttert und geängstigt zugleich. «Kinder sind nicht so leicht unterzukriegen. Er wird drüber wegkommen.» Mutter sah immer alles positiv.