«Hm.» Mutter überlegte eine Weile. «Sie war immer sehr erpicht, Anklang zu finden, mehr als ich, damals wie jetzt. Sie hat immer schon alles geglaubt, ich meine, den Leuten, die das Sagen haben. Ich glaub ihnen mal, mal glaub ich ihnen nicht. Ich muss drüber nachdenken.»
«Du hast mir gesagt, ich muss dir glauben.» Es machte mir Spaß, ihr einen kleinen Seitenhieb zu verpassen.
«Ich bin deine heilige Mutter.» Sie grinste. «Du kennst das Gebot <Du sollst Vater und Mutter eh-ren>.»
«Wie ist das bei Dinny Morton? Ihre Momma säuft, und man riecht es ihr an.»
Den letzten Happen verabreichte ich mit geweiteten Augen.
«Das ist schwierig. Schwierig.» Sie zündete sich die nächste Chesterfield an.
«Aber wenn Dinny größer ist, wird sie verstehen, warum Rachel», sie nannte Mrs.
Morton beim Vornamen, «diese Schwäche hat. Trunksucht ist ein furchtbarer
Fluch. Rachels Vater war Trinker und sein Vater auch, und ich vermute, sie
sind immer Trinker gewesen. Freilich hält einem niemand eine Pistole an den
Kopf und sagt, <Du kippst jetzt diesen Bourbon-Soda runter.> Ich versteh nicht,
wie die Leute den Geschmack ertragen.» Sie zog die Mundwinkel nach unten.
«Einfach grässlich.»
«Weihnachten hast du Sekt getrunken.»
«Ein Schlückchen. Sekt ist nicht so schlimm, aber ich mag den Geschmack nun mal nicht. Und dein Vater trinkt auch nicht viel. Ein kaltes Bier, wenn's heiß ist, und damit hat es sich auch schon bei ihm. Ich sag dir was, ich danke dem lieben Gott dafür. Mit einem Trinker verheiratet sein ist die reinste Hölle.» «Und das Abendmahl? Da gibt's Wein.» «Ein Schlückchen. Auch ziemlich grässlich.»
«Glaubst du wirklich, das ist das Blut Christi?» Louise hatte mir von der Wandlung erzählt, ihre persönliche, atemberaubende Version des Sakramentes, die sich in meinen Ohren nach Kannibalismus anhörte. «Nein.»
«Und warum nimmst du's dann?»
«Um des lieben Friedens willen. Manchmal, Herzelchen, muss man mitlaufen, um mitzukommen. Der Trick ist, rauszukriegen, wann und wo du damit durchkommst, einfach du selbst zu sein.» Sie genoss einen langen, tiefen Zug. «Ich sag dir was, mein kleines Ebenbild, man selbst zu sein ist der allergrößte Luxus.»
«Da ist sie.» Ich sprang auf, als der Nash am Strandrand hielt. «Siehste. Sie kann nicht ohne mich leben.» «Sag ihr das lieber nicht.» Sie stand auf, klaubte ihre Sachen zusammen, gab mir ein paar davon zum Tragen. «Du hast einen klugen alten Kopf auf deinen jungen Schultern. Manchmal staune ich über dich.» Sie warf sich das kurze Handtuch um den Hals. «Tu einfach, als war nichts gewesen. Steig auf den Rücksitz und schweig still. Sie wird sich ein bisschen abregen wollen, und sie will, dass wir das Ausmaß ihrer Vergebung würdigen.»
Ich tat wie geheißen. Auch Leroy verhielt sich still. Die größte Überraschung war, dass keine Schwester etwas zur anderen sagte, bis wir zu dem Restaurant kamen, einer verwitterten Schindelhütte, davor das allgegenwärtige weiße Schild mit dem großen roten Krebs; in diesem Fall hing er an einer Rahnock. Im Freien waren - ordentlich unter Zeltbahnen - hölzerne Picknicktische aufgestellt, von denen die meisten besetzt waren, auf dem Parkplatz aus zerstoßenen Muscheln gab es kaum noch Lücken.
Louise parkte, stieg aus, öffnete den Kofferraum, nahm ihr kleines Handtuch heraus, faltete es akkurat zusammen und legte es auf den Fahrersitz. Dann kam sie zurück und holte eine kleine Tragetasche heraus. «Ich geh mich umziehen. Du kannst für mich bestellen.» «Okay. Ich zieh mich um, wenn du wiederkommst.»
«Und ich?», fragte ich; denn ich mochte nicht im Badeanzug herumsitzen, auch wenn er fast trocken war.
«Lass uns zuerst gehen, danach kannst du dich schön machen.» Als wir drei uns an einen Tisch in der hinteren Reihe gesetzt hatten, nahm Mutter den Steinbeschwerer auf und reichte uns die darunterliegenden Speisekarten. Leroy und ich konnten eine einfache Speisekarte lesen. Wenn sie französische Wörter enthielt, waren wir hilflos. Aber diese, ein täglich neu geschriebenes und vervielfältigtes Blatt Papier, hielt sich ans Allgemeine: Krebse, Scholle, Muscheln, Austern, Krautsalat, Pommes frites, Maisbrot sowie Hühnchen oder Hot Dogs für diejenigen, die keine Meeresfrüchte mochten.
«Kleine Krebse fressen sich gegenseitig. Wenn sie groß sind, fressen sie tote
Menschen», teilte ich Leroy bereitwillig mit. «Gar nicht wahr.»
«Sie rupfen ihnen die Augen aus dem Kopf, dann fressen sie die Nase und reißen
große Happen aus den Backen. Sie haben tote Menschen einfach zum Fressen
gern. So was Leckeres.»
«Nickel», sagte Mutter nur.
«Es ist wahr.»
«Ist das wahr, Tante Julia, ja?»
«Also, das mit den Menschen würde ich nicht unterschreiben, aber es stimmt insofern, als Krebse und Hummer die Säuberungspatrouille der Bucht sind.» «Dann fressen sie keine toten Menschen?» Seine Stimme war leise. «Na, Leroy, was meinst du, wie viele tote Menschen gibt es in der Chesapeake Bay?» Sie hoffte, ihn ein wenig aufzuheitern.
Wieder zeigte ich mich sehr entgegenkommend. «Tausende. Millionen. Wir wissen nicht, wie viele Indianer hier ertrunken sind, bevor wir kamen.» «Nickel, halt den Mund, ja?» Mutter sagte selten «halt den Mund». Sie wandte sich an Leroy: «Hör nicht auf sie. Deine Cousine liebt nichts so sehr wie Geschichten vom Krieg oder von Schiffsuntergängen.
Sie hat ein Faible für Gewalt.» Sie warf mir einen verächtlichen Blick zu, und da wusste ich, dass, wenn ich mein ungeratenes Gerede fortsetzte, sich die Gewalt gegen mich richten würde.
Louise erschien strahlend in einem rückenfreien Oberteil und gebügelten weißen
Shorts. Die blassgelben Espadrilles waren auf das Oberteil abgestimmt, und sie
hatte ihr Haar mit einem marineblauen Band zusammengebunden. Sie sah
knackig aus wie immer.
«Jetzt bin ich dran.» Mutter ging.
«War die Bedienung schon da?»
«Nein, Ma'am», antwortete ich. «Ist ziemlich voll hier.»
«Die besten Lokale sind immer voll.» Louise studierte das mit blassrosa Tinte geschriebene vervielfältigte Blatt. «Ich nehme Soft Shell Crabs mit Pommes frites und die größte Coca-Cola der Welt. Was möchtet ihr?» «Hot Dog», sagte Leroy leise. «Ist das alles?»
«Er hat Angst, Krebse zu essen», gab ich ungefragt meinen Kommentar ab. «Schade. Warum, Leroy?» «Ich hab keine Angst. Ich mag keine Krebse.» «Er weiß, dass sie tote Menschen fressen.»
«Die, die du zu essen kriegst, bestimmt nicht», erklärte sie schlagfertig. «Wie kannst du das wissen? » Leroy war wirklich bange bei der Vorstellung, wie ein Krebs Menschenaugen ausrupfte.
«Ich kann's eben», lautete die nicht gerade überzeugende Antwort. «Ich möchte ein Hot Dog mit Senf und eine Coca-Cola.»
«Leroy, die Chesapeake Bay ist berühmt für ihre Soft Shell Crabs. Vor nächstem Sommer wird sich dir keine Gelegenheit mehr bieten, welche zu essen. Die Saison beginnt beim ersten Vollmond im Mai und endet im September. Wir haben bald September.»
«Tante Wheezie, ich möchte ein Hot Dog. Ehrlich.» Er machte den Mund so fest zu, dass nur noch ein Strich zu sehen war. «Hühnchen», flüsterte ich, um ihn noch mehr zu quälen.
Er wollte mir antworten, ließ es aber bleiben, weil Louise sagte: «Hühnchen? Sag bloß, du willst auch keine Soft Shell Crabs? Wie war's dann mit Austern? Voriges Jahr hat man zweieinhalb Millionen Austern aus der Bucht geholt. Aber dieses ist auch ein gutes Jahr. Na komm. Austern? Soft Shell Crabs?» «Also ...»
«Hühnchen. Nickel mag Hühnchen so gerne.» Leroy lächelte. «Na gut.» Sie fand sich mit unserem Eigensinn ab.
Die Bedienung erschien, Louise bestellte, dazu Krautsalat, Pommes frites und Brötchen.
Mutter kam zurück. «So, Kind, jetzt bist du dran. Geh ans Auto und hol deine Sachen aus dem Kofferraum.»