«Damit kommen vielleicht auch Schmerzen wieder.» Dann witzelte Mutter: «Herzchen, wir wollen, dass das gute Stück funktioniert. Meine Schwester kann's nicht erwarten, Urgroßmutter zu werden.»
Da Louise mit sechzehn geheiratet hatte, Ginny ein Jahr später geboren worden war und auch mit sechzehn geheiratet hatte, standen die Chancen gut, dass Louise lange genug unter uns weilte, um ihre Urur-enkelkinder zu erleben, sofern in der Familie weiterhin so jung geheiratet wurde.
Mutter dagegen hatte mit dem Heiraten bis Mitte zwanzig gewartet, weil sie es nicht eilig hatte, sich zu binden. Ihre grenzenlose Vergnügungssucht brachte Louise auf die Palme. Und der Trauring aus Platin führte auch nicht zu der Gesetztheit, die Louise sich davon erwartet hatte. Vielmehr stürzte Mutter sich nun erst recht ins volle Leben, und als ich erschien, stürzte sie mich mit hinein. Ich war vermutlich das einzige Kind im Staate Maryland, das froh war, abends ins Bett zu kommen. Ich brauchte die Ruhe.
«Ich heirate nicht.» Leroy wiederholte seine Erklärung von vorhin mit mehr Nachdruck.
«Das werden wir sehen.» Louise sprach mit jener Singsangstimme, die wir nicht ausstehen konnten.
«Nie, nie! Ich will keine Kinder. Ich will meine Mutter!» Sein Gesicht glühte hochrot.
Mutter sagte besänftigend zu ihm: «Das tun wir alle, Herzchen, das tun wir alle.» «Der Herr hat's gegeben, und der Herr hat's genommen», sagte Louise. «Warum? Warum, Wheezie?», schrie er. «Warum hat er Momma genommen, wenn er alte Leute nehmen kann? Alles, was der liebe Gott macht, stirbt.» Verstört durch seinen Ausbruch und seinen Kummer, quetschte ich mich dicht an die Tür.
«Wheeze, halt an», befahl Mutter.
Louises hübsche Gesichtszüge drückten Verblüffung aus. Sie hielt an. Mutter stieg aus und machte die hintere Tür auf. Hätte ich mich nicht am Türgriff festgehalten, wäre ich an den Straßenrand geplumpst. «Nickel, komm nach vorne», befahl Louise leise. «Ja, Ma'am.»
Mutter klopfte mir auf die Schulter; ich latschte vor, stieg auf den Beifahrersitz und machte die Tür zu.
Sie schloss die hintere Tür, rutschte neben Leroy und nahm ihn in die Arme. Er barg das Gesicht an ihrem weichen Busen und schluchzte sich die Seele aus dem Leib.
Louise fuhr wieder los. Als ich mich umdrehte, weinte Mutter auch, und deswegen, und wegen allem, musste ich auch weinen.
Louise, die Tränen in den Augen hatte, sagte sanft: «Nickel, manchmal kommt uns der liebe Gott grausam vor. Wir können es nicht verstehen. Man muss glauben, und man muss stark sein. Nur die Starken überleben.» «Ja, Ma'am.»
Louise schluckte schwer und griff mit ihrer rechten Hand nach meiner linken. Sie drückte sie fest und gewann dabei ihre Fassung wieder. Als ich mich das nächste Mal umdrehte, war Leroy an Mutters Busen eingeschlafen, der von seinen Tränen durchnässt war. Sie drückte das Handtuch auf seinen Schniepel, aber es war kein Eis drin. Sie lächelte mir zu, legte jedoch den Finger an den Mund. Ich lächelte zurück.
Ich blieb wach wie meistens im Auto, weil ich in der ständigen Angst lebte, etwas zu verpassen. Ich blickte gern auf die Felder mit den Massen von Rindern und versuchte sie zu zählen, bevor sie außer Sicht waren. Häuser, Kirchen, Geschäfte, Verkehrsschilder, Farben, große Bäume, alles faszinierte mich. Manchmal konnte ich sogar Vögel im Flug erkennen oder einen großen Rotschwanzbussard auf einem Baum hocken und aufs Abendbrot warten sehen. Ich sprach kein Wort, bis Louise uns zu Hause absetzte und Leroy aufwachte.
Als er wach war, gab Mutter ihm einen Kuss und zog ihm die Hose hoch. «Es wird
alles wieder gut.»
Er schlang die Arme um sie.
«Leroy, komm her zu mir», sagte Louise.
Er machte die Autotür auf und ging nach vorne, hielt dabei die Beine gespreizt, sodass er einen komischen Gang hatte. Ich gab ihm auch einen Kuss. Auf dem Weg zur Hintertür fiel mir die Schere in meiner Shortstasche ein, und während Mutter vorausging - sie lief immer so schnell -, warf ich die Schere weg. Dad hörte die Tür aufgehen und kam in die Küche. Er gab Mutter einen dicken Kuss und mir auch. Dad umarmte und küsste gern, aber besonders gern küsste er Mutter.
«Na, wie war's?»
«Chessy, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.»
Aber ich wusste es. «Daddy, ein Krebs hat Leroys Schniepel gezwickt!»
Dads schöne blaue Augen wurden groß. An Mutter gewandt sagte er: «Hoffentlich
war's ein weiblicher Krebs.»
Jetzt, da ich dies aufschreibe, bin ich vierzehn Jahre älter, als Mutter und Dad damals waren. Sie sind alle tot. Louise ist hundert Jahre alt geworden, sofern man ihrem Geburtsdatum Glauben schenkte. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass sie die hundert ein gutes Stück überschritten hat. Leroy und ich haben unser Versprechen gehalten. Wir haben beide nicht geheiratet. Er wurde Marineinfanterist wie sein Vater. Er ist in Vietnam gefallen. Louise hat die Flagge aufbewahrt, die die Marineinfanteristen ihr am Grab überreicht haben. Jetzt verwahre ich sie, zu einem Dreieck gefaltet, in meinem Bücherregal. Ich habe einen Plastikkrebs draufgelegt.
«Ehrlich gesagt, langweile ich mich am Strand zu Tode»
Rita Mae Brown erzählt
Denis Scheck Wann waren Sie zuletzt am Meer?
Rita Mae Brown Vor vier Monaten, das heißt, ich habe das Meer gesehen, aber nicht am Strand gesessen. Virginia grenzt an den Atlantik. Von meiner Farm am Fuß der Ostseite des Blue-Ridge-Gebirges ist man bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 9 5 Stundenkilometern in zweieinhalb Stunden am Meer. Dank meiner Lesereisen bekomme ich auch wenigstens einmal im Jahr den Pazifik zu sehen.
DS Was löst der Anblick des Meers in Ihnen emotional aus? Beruhigung/Bedrohung/Entspannung?
RMB Das Meer ist ein großes Hotel, das Fische, Krebse, Aale und andere Lebewesen beherbergt, die mich faszinieren, aber mit denen ich nie ins Gespräch kommen konnte. Da ich für Muße nichts übrighabe, kann ich nicht unter einem Sonnenschirm sitzen, und ehrlich gesagt, langweile ich mich am Strand zu Tode. DS Sie sind ja eine Beobachtungskünstlerin. Welche Rolle spielte bei der Entstehung Ihrer Geschichten die eigene Wahrnehmung -mit anderen Worten, müssen Sie reisen, um zu schreiben?
RAAB Die Welt wirbelt in und auf einem Grashalm. Wer wachsam ist, muss nur beobachten. Reisen ist nicht notwendig, wiewohl ich bei Besuchen im Ausland gelernt habe, dass jede Kultur ihre Methode hat, Dinge besser zu machen als wir, und damit meine ich Amerika.
DS Reisen Sie, um von sich selbst Abstand zu gewinnen - oder verhält es sich gerade andersherum: reisen Sie, um sich selbst zu finden? RMB Eine Reise bedeutet für mich eine Lesereise, was in den USA auf eine Art Trainingslager ohne Essen und Schlaf hinausläuft. Wenn ich privat unterwegs bin, dann in Pferdegeschäften, überwiegend in Kentucky und Wyoming, oder zur Fuchsjagd (in Amerika töten wir die Füchse nicht, wohlgemerkt) als Gast bei anderen Jagdvereinen. Bin ich mir selbst überlassen, bleibe ich am liebsten auf der Farm, weil es dort außergewöhnlich schön ist und weil ich meine Pferde, Jagdhunde, Haushunde, Katzen und sogar Hühner ungern verlasse. DS Können Sie einem Text ablesen, ob sein Verfasser ein Mann oder eine Frau war?
RMB Ich kann es nur erkennen, wenn sie es zum Prinzip erheben, eine Haltung, die ich beklagenswert finde. Wer sein Geschlecht oder seine Sexualität hinausposaunen muss, ist schwach und ängstlich. DS Oder eine Katze?
RMB O ja, einen Text, der von einer Katze geschrieben wurde, erkenne ich immer. Er enthält zu viele schwärmerische Hinweise auf Katzenminze und Thunfisch. DS Gibt es in Ihren Augen so etwas wie Frauenliteratur?