«Ich weiß nicht, Juts. Ich will's hoffen. Man muss viel gelebt haben, um den Tod zu verstehen. Er ist erst acht. Stell dir vor, wir hätten Momma mit acht verloren.»
«Wir hätten uns gehabt.» Mutter war weit davon entfernt, die Sache zu bagatellisieren. «Aber wir hätten uns sicherlich eine lange, lange Zeit Abend für Abend in den Schlaf geweint.»
«Und das arme Kerlchen muss es mit Ken aufnehmen. Wie soll das gehen? Wie nimmt man es mit einem Vater auf, der Träger der Medaille für hervorragende Tapferkeit ist?»
«Schwesterherz, Leroy ist nicht der Erste in unserer Familie, der einen Helden zum Vater hat. Seit dem Karfreitagsmassaker war in jedem Krieg und bei jedem Aufruhr einer von uns dabei. Was die konnten, kann er auch.» Das Karfreitagsmassaker hatte sich im Jahre 1622 am James River in Virginia ereignet.
«Das ist Chessys Familie, nicht unsere. Das darfst du nie vergessen, Julia» - sie nannte Mutter bei ihrem richtigen Vornamen -, «wir sind Marylander.» «Trotzdem. Immer war irgendwo irgendwer im Krieg. Es wird immer Kriege geben.» Sie schnitt der widersprechenden Louise das Wort ab. «Du weißt selbst, dass nicht einmal alle Amerikaner das Wort Gottes befolgen, warum also sollte es jemand in der Ukraine tun? So ist nun mal der Lauf der Welt.» «Mir wird übel davon.» Louise war es ernst damit.
«Ich glaube, mir würde übel, wenn ich es sehen und riechen müsste.» Mutter blickte nach links, nach Osten. Wir näherten uns der Spitze von St. Mary's County, und die Sonne brach genau dort durch, wo sich bei Point Lookout die Chesapeake Bay und der Potomac vereinen. Virginia lag im Westen und das andere Stück von Maryland im Osten. Die Inseln, die sich vom Ostteil Marylands gelöst hatten, waren wie Puzzleteile in der Bucht verstreut. «Du machst mir Spaß.» «Wieso?»
«Als du klein warst, hast du immer in die Hände geklatscht, wenn die Sonne aufging. Dann hat Momma gelacht, und du hast weitergeklatscht.» Sie seufzte. «Gibt es was Schöneres als einen neuen Tag?» Mutter strahlte. Cora, ihre Mutter, war 1947 gestorben. Ich war knapp drei. Ich erinnere mich, dass alle geweint haben. Das war meine erste Begegnung mit der Tatsache, dass Menschen die Erde verlassen. Als Nächstes kam, mit gerade mal fünf, ein Cousin an die Reihe, und dann Ginny. Etwas beunruhigte mich. Wenn sie an einen besseren Ort gingen, warum weinten dann alle?
Louise kurbelte das Fenster herunter, die noch kühle Luft strömte herein. «Ich weiß, dass die Sonne im Osten aufgeht, aber ich weiß nicht, was sie mitbringt.» «Gute Zeiten.» Mutter strahlte. «Ich weiß nicht.» «Schwesterherz, gute Zeiten.» Mutter lächelte.
Als Ginny krank wurde, hatten Mutter und Tante Louise sie gepflegt. Mutter trug die ganze Last von Louises Trauer und trauerte selbst; denn Ginny war ein ausnehmend liebenswerter Mensch gewesen.
Sie schwiegen eine ganze Weile, dann atmete Louise tief ein und ließ die Luft
langsam ausströmen. «Ich fühle mich allmählich alt.»
«Red keinen Quatsch. Du bist keinen Tag älter als zweiundfünfzig.»
«Achtundvierzig», lautete die prompte, eiskalte Antwort.
«Ha, dass ich nicht lache.»
«Du bleibst immer meine kleine Schwester, aber mach mich nicht älter, als ich bin.» Sie rutschte auf ihrem Sitz herum, kurbelte das Fenster wieder hoch; denn draußen war es frisch, obwohl wir August hatten. «Das mittlere Alter ist heikel. An manchen Tagen fühl ich mich wie sechzehn, und an anderen, na ja.» Ihre Stimme verklang.
«Ich würd's nicht merken», bekam sie frech zur Antwort.
«Ha, dassich nicht lache.» Louise grinste. «Man ist nur so alt, wie man sich fühlt. Kopf hoch.»
«Ich versuch's ja, kleine Schwester, aber manchmal schlägt alles über mir zusammen.»
Sie schwiegen, dann: «Kann ich mir denken.» Nach einer kurzen Pause fügte Mutter hinzu: «Wir müssen dagegen ankämpfen. Ginnys wegen müssen wir intensiver leben. Wenn du dich aufdonnerst, fühlst du dich besser und jünger, glaub mir.»
«Kann sein, aber egal, ob ich mir Creme ins Gesicht klatsche, Falten krieg ich trotzdem.»
«Du siehst toll aus.» Mutter schwindelte nicht; denn schöne Haut, die nur langsam alterte, lag in der Familie.
Sofern so etwas überhaupt möglich war, strahlte die Haut der Männer sogar noch frischer als die der Frauen. Mutter sagte, durch tägliches Rasieren bleibe die Haut glatt.
«Ihr seht aus wie Zwillinge», gab ich meinen Senf dazu.
Auch wenn es Mutter freute, dass ich ihre Schwester aufmunterte, warf sie mir einen rasenden Blick zu. Sie war gern die Kleine und wollte nicht als Louises Zwilling durchgehen. «Du bist süß», gurrte Louise.
Der Nebel lichtete sich so weit, dass wir die Landschaft sehen konnten, die flach war wie ein Pfannkuchen. Die Spitze von St. Mary's County lag direkt vor uns; der provisorische Parkplatz bestand aus zerstoßenen Muscheln. Der Sand dahinter wurde vom Wind aufgewirbelt, der heute zum Glück nur sanft wehte. Mutter fuhr auf die Muscheln, die Reifen knirschten. Die Sonne stieg über den Horizont. «Froh erwachet jeden Morgen.» Ich schüttelte Leroy. «Aufwachen.»
Er machte die Augen auf und rappelte sich hoch. «Guckt mal, die vielen Vögel. Tante Wheezie, ich muss mal.»
Mutter stellte den Motor ab, Louise öffnete die schwere Wagentür, machte den hinteren Schlag auf, und Leroy stieg aus. Seine Turnschuhe waren blitzblank, weil er sie mit einem Topfputzer geschrubbt hatte. Leroy hielt seine Sachen ordentlich und sauber, weil sein Daddy verlangte, dass er alles auf anständige militärische Art erledigte. Auch ich musste Ordnung halten.
«Herzchen, hier ist kein Mensch, du kannst da drüben machen.» Sie deutete auf die Muschelgrenze. «Schütteln nicht vergessen.» Er wurde knallrot und murmelte: «Ja, Ma'am.» «Ich komm nachgucken», zog ich ihn auf.
Mutter legte mir ihre Hand auf die Schulter. «Nickel, das ist gemein.» «Mutter, ich hab schon Regenwürmer gesehen, die waren größer als das da.» «Wann hast du Leroys Schniepel gesehen?» Tante Louises Augenbrauen schnellten hoch bis fast zu ihrem spitzen Haaransatz.
«Immerzu. Er muss dauernd aufs Klo.» Ich tat es achselzuckend ab, weil mir die Sache nicht der Rede wert erschien.
Mutter dachte eine Weile nach, dann riet sie mir geduldig: «Mach dich nicht lustig über ihn. Jungs, ah», sie überlegte noch ein bisschen, «Jungs sind sehr emp findlich, was ihren Schniepel angeht, auch wenn sie damit angeben.» Louise pflichtete ihr bei: «Sie sind sehr sensibel. Ich hoffe inständig, dass er dich nicht untersucht hat.» Sie betonte «untersucht».
«Tante Wheezie, er macht sich überhaupt nichts aus mir. Ich will ihn gar nicht sehen, aber wie gesagt, er geht eben dauernd aufs Klo. Ich weiß nicht, warum. Ich muss nicht so oft wie er.»
Sie hörten nicht auf mein Geplapper. Mutter machte den Kofferraum auf. «Ich trag den Korb, wenn du die große Kühltasche nimmst.» Louise griff sich den Korb; es war der, den Dad immer mitnahm, wenn er auf Fasanenjagd ging. Ohne zu klagen, hob Mutter ächzend die Kühltasche mit den Getränken aus dem Kofferraum. Sie wusste, dass Louise zu Rückenschmerzen neigte. «Mutter, Leroy sagt, sein Schniepel tut manchmal weh. Wie kommt das?» «Weil Blut reinschießt.»
Das hörte sich schrecklich an. «Muss er zum Doktor?» Die zwei Schwestern lachten, dann sagte Louise: «Nein.» «Ich seh kein Blut.»
«Nickel, lass uns das ein andermal besprechen», schlug Mutter vor, was so viel hieß wie Mund halten.
Ich konnte nicht widerstehen und sagte: «Bin ich froh, dass ich mit solchen Problemen nichts zu schaffen hab.»
«Ich auch.» Mutter ging über den Sand, die Arme zur Balance ausgestreckt wegen der Kühltasche, die schwer war von all den Getränken, wie gesagt. Louise folgte ihr mit dem Korb. «Du wartest auf Leroy, dann nehmt ihr die Decken und meine Tasche mit dem Werkzeug. Wir suchen den idealen Platz.» Ich lehnte mich ans Auto, an die von Leroy abgewandte Seite, und als er pfiff und zurückkam, holte ich die Klempnertasche heraus und schlug den Kofferraumdeckel zu. In der Segeltuchtasche befanden sich Kellen, kleine Eimer, ein Messbecher aus Blech, eine Reißschiene, kleine Eisstiele, Buntpapier, Bindfaden, Schere, ein Fahrtenmesser und ein Fläschchen Nagellack. Leroy folgte mir zu der Stelle, wo Mutter und Tante Louise standen, die Augen mit der rechten Hand beschattend.