Plötzlich fühlte Oba, wie er an seinen Kleidern und Armen gepackt und nach hinten gerissen wurde. Als man ihn rückwärts zwischen den Wagen hervorschleifte, gewahrte er eine Menschenmenge, die sich zu einem Halbkreis formiert hatte – den Leuten stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Was Oba freute, denn das bedeutete, daß Clovis seinen gerechten Lohn bekommen hatte. Die gerechte Bestrafung eines Verbrechens mußte abschreckend auf die Menschen wirken, wenn sie als Exempel dienen sollte. So hätte es sein Vater wohl auch ausgedrückt.
Oba hob den Blick und besah sich die Männer genauer, Ein ganzer Trupp Soldaten in Lederrüstungen. Kettenpanzern und Stahl war herbeigeeilt, um ihn einzukesseln. Langspieße, Schwerter und Streitäxte blinkten in der Sonne, allesamt auf ihn gerichtet. Zu ausgelaugt, um sie mit einer Handbewegung fortzuscheuchen, konnte er nur matt mit den Augen blinzeln.
Erschöpft, völlig außer Atem und schweißgebadet, schaffte Oba es nicht mehr, seinen Kopf hoch zu halten. Noch während er den Männern in die Arme sank, wurde es schwarz um ihn.
40
Auf die Schaufel gestützt, ließ Friedrich sich von Schwermut wie gelähmt auf seine Knie sinken, setzte sich auf die Fersen und ließ die Schaufel auf den kalten Boden fallen. Der eisige Wind zauste sein Haar, ebenso wie die langen Grashalme rings um die frisch aufgeworfene Erde.
Für ihn war eine Welt zusammengebrochen.
Von seinem Kummer wie betäubt, kreiste sein Verstand immer nur um diesen einen Gedanken.
Plötzlich übermannte ihn ein Schluchzen, weil er befürchtete, er könnte vielleicht doch nicht das Richtige getan haben. An diesem Platz war es kalt; er hatte Angst, Althea könnte frieren. Und Friedrich wollte nicht, daß sie fror.
Andererseits war es auch sonnig, und Althea liebte die Sonne. Immerzu hatte sie davon gesprochen, wie sehr sie es liebte, die Sonne auf ihrem Gesicht zu spüren. Trotz der drückenden Hitze im Sumpf drang das Sonnenlicht nur selten bis zum Boden vor, jedenfalls nicht in der Nähe ihres Gefängnisses, wo sie es hätte sehen können.
Für Friedrich aber war bereits ihr goldenes Haar der reinste Sonnenschein. Meist hatte sie für derartige Sentimentalitäten nur leisen Spott übrig, manchmal aber wenn er eine Weile nicht davon gesprochen hatte, fragte sie ihn ganz arglos, ob ihr Haar auch ordentlich gebürstet sei und sie sich damit vor den Besuchern, die wegen einer Weissagung zu ihr kamen, sehen lassen könne. Wenn sie eine ganz bestimmte Absicht damit verfolgte, konnte sie eine perfekte Unschuldsmiene aufsetzen. Gewöhnlich erzählte er ihr dann, ihr Haar sehe aus wie Sonnenschein. Daraufhin errötete sie meist wie ein junges Mädchen und erwiderte, »Ach, Friedrich.«
Jetzt würde die Sonne nie wieder für ihn scheinen.
Er hatte lange darüber nachgedacht, wie er es machen sollte, und schließlich entschieden, daß es so das Beste für sie sei – wenn sie hier oben, auf der Bergwiese, begraben liege und nicht unten im Sumpf. Wenn er sie schon zu Lebzeiten nicht von diesem Ort hatte wegbringen können, dann wenigstens jetzt. Für ihre letzte Ruhestätte war die sonnige Wiese zweifellos ein geeigneterer Ort als ihr ehemaliges Gefängnis.
Alles hätte er dafür gegeben, wenn er sie schon früher von dort hätte fortbringen, ihr noch einmal die Schönheiten der Welt zeigen und ihr unbekümmertes Lächeln im Licht der Sonne hätte sehen können. Aber sie hatte den Sumpf nicht verlassen können; und für alle anderen, ihn eingeschlossen, war einzig der Weg vorne vor dem Haus sicher passierbar gewesen. Nur dieser Weg führte vorbei an den unbekannten, aus ihrer Magie erschaffenen Wesen. Für sie existierte nicht einmal dieser eine sichere Weg nach draußen.
Friedrich wußte, daß die schauderhaften Konsequenzen für alle, die sich an einer anderen Stelle in den Sumpf hineinwagten, nicht bloß in seiner Einbildung existierten. In den vergangenen Jahren war mehrmals jemand aus Unvorsichtigkeit oder Draufgängertum vom Weg abgekommen oder hatte versucht, sich hinten herum durchzuschlagen, wo nicht einmal er sich hintraute. Für Althea war es eine quälende Vorstellung gewesen, daß ihre Kräfte unschuldiges Leben vernichtet hatten. Wie Jennsen auf diesem Weg unversehrt hatte durchkommen können, war sogar Althea ein Rätsel gewesen.
Zum Zeichen ihrer wiedergewonnenen Freiheit hatte Friedrich Althea auf ihrem letzten Gang über ebendiesen Weg getragen.
Ihre Ungetüme waren verschwunden. Jetzt weilte sie bei den Gütigen Seelen.
Und er war allein.
Friedrich krümmte sich in seinem unendlichen Schmerz nach vorn und weinte herzzerreißend über ihrem frischen Grab. Mit einem Schlag hatte sich die Welt in einen unbewohnten, einsamen Ort bar jeden Lebens verwandelt. Er krallte seine Finger in das kalte Erdreich, unter dem seine Liebe begraben lag. Erdrückende Schuldgefühle quälten ihn, weil er nicht zugegen gewesen war, um sie zu beschützen. Wäre er dagewesen, davon war er überzeugt, würde sie ganz gewiß noch leben. Es war sein einziger Wunsch: Er wollte, daß Althea noch lebte.
Stets war er voller Begeisterung in ihr Zuhause, das es nun einmal war, zurückgekehrt, um ihr von jeder noch so unscheinbaren Beobachtung zu berichten – von einem Vogel über einem Feld, einem Baum, dessen Blätter im Sonnenlicht schimmerten, einer Straße, die sich wie ein Band durch die hügelige Landschaft zog – von allem, das ein kleines Stück der Welt in ihr Gefängnis zu bringen vermochte.
Anfangs hatte er die Welt draußen mit keinem Wort erwähnt. Er dachte, wenn er ihr von den Dingen erzählte, die er außerhalb des Sumpfes sah, von Dingen, die für sie unerreichbar waren, würde das ihr Gefühl der Eingeschlossenheit und Verzweiflung nur noch verstärken. Woraufhin Althea das ihr ganz eigene Lächeln lächelte und meinte, sie wolle alles, was er sah, genau erzählt bekommen, denn auf diese Weise könne sie Darken Rahls Wunsch, sie einzusperren, unterlaufen. Sie behauptete, mit Friedrichs Augen ihrem Gefängnis entfliehen zu können. Die Bilder, die Friedrich ihr mitbrachte, gaben Althea die Möglichkeit, sich mit Hilfe eines wahren gedanklichen Höhenflugs aus ihrem Gefängnis zu befreien. Auf diese Weise half Friedrich ihr, sich dem Wunsch dieses abscheulichen Menschen zu widersetzen, der sie für immer von der Welt abschneiden wollte.
Friedrich brauchte sich also gewissermaßen keine Vorwürfe zu machen, wenn er den Sumpf verließ, obwohl sie zurückbleiben mußte, denn er war nicht sicher, wer hier eigentlich wen beschenkte. Das war typisch für Althea – sie machte ihn glauben, er tue etwas für sie, dabei war im Grunde sie es, die ihm half, sein Leben nach besten Kräften zu meistern.
Nun aber wußte Friedrich nicht mehr, was er tun sollte. Sein Leben schien in der Luft zu hängen, denn ein Leben ohne Althea war für ihn undenkbar. Ihre Gegenwart hatte ihn mit Leben erfüllt, ihn sich selbst erkennen lassen und ihn zu dem gemacht, der er war. Ohne sie war sein Leben sinnlos geworden.
Über ihre Todesart konnte Friedrich nur Vermutungen anstellen, und sich auf die Dinge, die er vorgefunden hatte, einen Reim zu machen, das hatte ihm nicht gelingen wollen. Sie selbst schien völlig unversehrt, das Haus dagegen war durchstöbert worden. Die merkwürdigsten Dinge waren gestohlen worden, ihre gesamten Ersparnisse, des weiteren Lebensmittel, ein paar Ausrüstungsgegenstände, ein Stück alten Stoffs ohne großen Wert. Andere Wertgegenstände dagegen waren noch da – vergoldete Schnitzereien, das Blattgold und die Werkzeuge. Sosehr er sich bemühte, Friedrich wurde einfach nicht schlau daraus.
Klar war ihm nur eins, Althea mußte sich vergiftet haben. Außerdem gab es eine zweite Tasse, offenbar hatte sie also versucht, noch eine zweite Person zu vergiften. Vielleicht jemanden, der sie wegen einer Weissagung aufgesucht hatte, jemand, der nicht eingeladen gewesen war.
Friedrich war allerdings nicht entgangen, daß Althea ihren Besucher, wer immer es gewesen sein mochte, erwartet haben mußte; sie hatte ihm dieses Wissen vorenthalten und ihn sogar noch ermuntert, die Reise zum Palast zu unternehmen, um seine vergoldeten Schnitzereien zu verkaufen. Er hatte sich fast ein wenig gedrängt gefühlt, und da sie keine Besucher eingeladen hatte, angenommen, sie wolle eine Weile allein sein, was nichts Ungewöhnliches war. Vielleicht war sie auch deshalb so erpicht, daß er eine kleine Reise unternahm, um etwas von der Welt zu sehen, weil er es schon eine Weile nicht mehr getan hatte. Sie hatte sein Gesicht in ihre Hände genommen, ihn ein letztes Mal geküßt und das Gefühl genossen, ihn zu berühren.