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Jetzt kannte er die Wahrheit; ihr langer, ausgiebiger Kuß war ein Abschied gewesen. Sie hatte ihn aus dem Weg haben wollen.

Friedrich langte in seine Tasche und zog die Nachricht hervor, die sie ihm hinterlassen hatte. Es kam häufiger vor, daß sie ihm kleine Notizen schrieb – Dinge, die ihr in seiner Abwesenheit einfielen und die sie nicht vergessen wollte, um sie ihm später zu erzählen. Er hatte in der vergoldeten Tasse nachgesehen, die er ihr geschnitzt hatte und die sie auf dem Fußboden unter ihrem Sessel hinter dem Kissen aufbewahrte, und zu seiner Überraschung tatsächlich einen an ihn gerichteten Brief gefunden.

Vorsichtig faltete er ihn auseinander und las ihn noch einmal, obwohl er ihn bereits so oft gelesen hatte, daß er ihn mittlerweile Wort für Wort auswendig kannte.

Mein geliebter Friedrich,

ich weiß, in diesem Augenblick kannst du es nicht verstehen, trotzdem sollst du wissen, daß ich meine Pflicht gegenüber der Unverletzbarkeit des Lebens keineswegs aufgegeben habe – sondern sie vielmehr hiermit erfülle. Ich weiß, es wird nicht leicht für dich sein, trotzdem mußt du mir vertrauen, wenn ich sage, ich mußte es tun.

Ich habe meinen Frieden gefunden. Mir war ein langes Leben vergönnt – ein weit längeres als den meisten anderen vom Glück begünstigten Menschen. Am schönsten aber war die Zeit mit dir. Ich habe dich geliebt, fast vom ersten Tag an, als du in mein Leben getreten bist und mein Herz wachgerüttelt hast. Lasse nicht zu, daß der Kummer dir das Herz bricht, in der nächsten Welt werden wir wieder vereint sein, und dann für immer.

In dieser Welt aber bist du, wie ich, einer der vier Beschützer – einer der vier Steine an den Ecken meiner Huldigung. Du erinnerst dich. Auf deine Frage, wer sie seien, erklärte ich dir, Lathea und ich seien zwei der Steine in meiner letzten Weissagung. Ich wünschte, ich hätte dir da schon sagen können, daß du auch dazugehörst, aber ich habe mich nicht getraut. Ich bin blind gegen vieles, das geschieht, aber das wenige, das ich weiß, muß ich nach bestem Vermögen nutzen, oder die Chance, daß andere ein erfülltes Leben führen können, ist für immer dahin.

Du sollst wissen, daß es stets einen Platz in meinem Herzen für dich gibt, und daran ändert sich auch dann nichts, wenn ich durch den Schleier trete und bei den Gütigen Seelen bin.

Die Weit des Lebens braucht dich, Friedrich. Deine Rolle darin hat noch nicht begonnen. Ich habe nur eine Bitte, Werde diesem Ziel gerecht, sobald dein Ruf erfolgt.

Auf ewig dein, Althea.

Friedrich wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und las Altheas Worte noch einmal. Beim Lesen konnte er ihre Stimme in seinem Kopf hören, es war als ob sie zu ihm spräche, fast so, als stünde sie direkt neben ihm. Er hatte Angst, sich von ihrer Stimme zu trennen, schließlich aber faltete er den Brief zusammen und steckte ihn wieder ein.

Als er aufsah, stand ein hoch gewachsener Mann vor ihm.

»Ich war ein Bekannter von Althea.« Seine kräftige Stimme klang eindringlich und ernst. »Euer Verlust tut mir unendlich leid. Ich bin gekommen, Euch meine Aufwartung zu machen und mein Beileid auszusprechen.«

Friedrich erhob sich langsam, den Blick nicht von den dunklen blauen Augen des Mannes lassend. »Wie konntet Ihr wissen, was passiert ist?« Er wurde zusehends verärgert. »Welche Rolle hattet Ihr in diesem Spiel?«

»Die Rolle des traurigen Zeugen einer Entwicklung, auf die ich keinen Einfluß habe.« Der Mann, beträchtlich älter, aber offenbar noch voller Kraft, legte Friedrich eine Hand auf die Schulter und drückte sie in einer liebenswürdigen Geste. »Ich kenne Althea von vor langer Zeit, als sie in den Palast der Propheten kam, um dort zu studieren.«

»Ihr habt meine Frage nicht beantwortet. Woher wußtet Ihr davon?«

»Ich bin Nathan, der Prophet.«

»Nathan, der Prophet... Nathan Rahl? Zauberer Rahl?«

Der Mann nickte, während er seine Hand zurückzog und sie wieder unter dem Rand seiner offenen braunen Pelerine verschwinden ließ. Friedrich nickte knapp, aus Achtung, für eine Verbeugung brachte er jedoch nicht genügend Interesse auf, auch wenn er einen Zauberer vor sich hatte und dieser Zauberer ein Rahl war.

Der Mann trug eine braune Wollhose und hohe Stiefel, also nicht gerade die Kleidung eines Zauberers. Überhaupt entsprach sein Äußeres größtenteils nicht Friedrichs Vorstellungen von einem Zauberer, und erst recht sah er nicht aus wie ein Mann, der nach Altheas Worten nahezu eintausend Jahre alt war. Sein kräftiges Kinn war glatt rasiert, sein glattes weißes Haar reichte bis auf seine breiten Schultern. Er war keineswegs vom Alter gebeugt, sondern besaß die geschmeidige Körperhaltung eines Schwertkämpfers und verströmte die Selbstverständlichkeit großer Autorität.

Seine Augen aber, die so durchdringend unter seiner falkenhaften Stirn hervorlugten, entsprachen genau Friedrichs Bild von einem Mann wie ihm. Es waren die typischen Augen eines Rahl.

Friedrich verspürte einen leichten Anflug von Eifersucht. Dieser Mann hatte Althea lange vor ihm gekannt, zu einer Zeit als sie noch jung und sehr schön gewesen war, eine Hexenmeisterin in der Blüte ihrer Kraft und Talente, eine begehrenswerte Frau, eine Frau, der so mancher große Mann den Hof gemacht hatte. Eine Frau, die wußte, was sie wollte, und die ihre Ziele mit ungezügelter Leidenschaft verfolgte. Friedrich war nicht so naiv zu glauben, er sei der erste Mann in ihrem Leben gewesen.

»Ich habe ein paarmal mit ihr gesprochen«, sagte Nathan, gewissermaßen als Antwort auf die unausgesprochenen Fragen, so daß Friedrich sich schon fragte, ob ein Mann von seinen Talenten auch Gedanken lesen konnte. »Ihre prophetische Gabe war stark ausgeprägt – zumindest für eine Hexenmeisterin. Verglichen mit einem echten Propheten war sie allerdings eher wie ein Kind, das sich an Spielen für Erwachsene versucht.« Der Zauberer milderte seine Bemerkung mit einem begütigenden Lächeln. »Damit möchte ich aber keineswegs ihren Mut oder ihren Verstand schmälern, sondern lediglich beides ins rechte Licht rücken.«

Friedrich löste seinen Blick von den Augen des Mannes und schaute wieder auf das Grab. »Wißt Ihr überhaupt, was vorgefallen ist?« Als keine Antwort erfolgte, blickte er wieder hoch zu dem groß gewachsenen Mann, der ihn noch immer ansah. »Und wenn Ihr es wißt, hättet Ihr sie daran hindern können?«

Nathan dachte einen Moment über die Frage nach. »Habt Ihr je erlebt, daß Althea ändern konnte, was sie in den Steinen sah?«

»Das nicht«, mußte Friedrich zugeben.

Er hatte sie ein paarmal in den Arm genommen, als sie, aus Kummer über ihr Unvermögen, an dem Gesehenen etwas zu ändern, geweint hatte. Auf seine Frage, was man tun könne, hatte sie ihm mehrfach erklärt, daß diese Dinge nicht so einfach seien, wie sie einem nicht mit der Gabe Gesegneten erscheinen mochten. Viele Feinheiten ihrer Gabe waren für ihn nahezu unverständlich, obwohl die Bürde der Prophezeiungen – zumindest das wußte er – oft so schmerzlich war, daß sie sie fast erdrückten.

»Wißt Ihr vielleicht, warum sie es getan haben könnte?«, fragte Friedrich, auf eine Erklärung hoffend, die seinen Schmerz erträglicher machte. »Was sie dazu getrieben haben könnte?«

»Sie hat sich ihren Tod ausgesucht«, zog Nathan ein schlichtes Resümee. »Ihr müßt darauf vertrauen, daß sie diese Entscheidung aus freien Stücken und aus triftigen Gründen getroffen hat. Ihr müßt begreifen, daß sie es nicht nur deswegen getan hat, weil es für sie und Euch am besten war, sondern auch für andere.«