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»Für andere? Was wollt Ihr damit sagen?«

»Ihr wußtet beide, welch entscheidende Rolle die Liebe im Leben spielt. Mit ihrer Entscheidung hat sie ihr Möglichstes getan, damit auch andere in den Genuß dieser Erfahrung kommen.«

»Ich verstehe noch immer nicht.«

Nathan schaute in die Ferne und schüttelte langsam den Kopf. »Die gegenwärtigen Geschehnisse sind mir nur zum Teil bekannt. Friedrich. Ich fühle mich in dieser Angelegenheit auf eine bislang unbekannte Weise blind.«

»Wollt Ihr damit sagen, es hat etwas mit Jennsen zu tun?«

Nathans Brauen zuckten hoch, und er sah Friedrich plötzlich durchbohrend an. »Jennsen?« Der Argwohn in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Eine der Lücken in der Welt. Althea meinte, Jennsen sei eine Tochter Darken Rahls.«

Der Zauberer schlug seine Kapuze zurück und stemmte eine Hand in die Hüfte. »So lautet also ihr Name, Jennsen.« Ein heimliches Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Den Begriff Lücke in der Welt höre ich zum ersten Mal, aber ich verstehe durchaus, wie passend er einer Hexenmeisterin mit ihrer beschränkten Gabe erscheinen muß.« Er schüttelte den Kopf. »Trotz ihrer Begabung vermochte Althea nicht einmal ansatzweise zu begreifen, was es mit Jennsen und ihresgleichen auf sich hat. Die Unfähigkeit der mit der Gabe Gesegneten, die verschiedenen Aspekte ihres Daseins zu erfassen und sie daher als Lücken in der Welt zu bezeichnen, ist sozusagen nur der Schwanz des Bullen, und der Schwanz ist der am wenigsten wichtige Teil. ›Lücke‹ ist nicht annähernd zutreffend, ich würde eher sagen, ›Leere‹ wäre passender.«

»Ich bin gar nicht so sicher, ob Ihr damit recht habt, daß sie es nicht begriff. Althea war schon seit langem mit Jennsen und ihresgleichen beschäftigt. Möglicherweise waren ihre Kenntnisse über sie viel umfassender als Ihr denkt. Mir und Jennsen gegenüber hat sie erklärt, sie wisse nicht mehr, das Wichtigste aber sei, daß die mit der Gabe Gesegneten blind gegen sie seien.«

Nathan entfuhr ein kurzes, respektvolles Lachen, eine Anerkennung für die Frau, die hier vor ihnen in der Erde lag. »Oh, Althea wußte mehr als das, sehr viel mehr. Diese Geschichte über die Lücken in der Welt war sozusagen nur eine Kostprobe dessen, was Althea tatsächlich wußte.«

Friedrich wagte nicht, dem Zauberer zu widersprechen; er wußte, daß Hexenmeisterinnen ihre Geheimnisse wahrten, indem sie den wahren Umfang ihres Wissens für sich behielten. Althea hatte sich ebenso verhalten, selbst ihm gegenüber. Dies war kein Mangel an Respekt oder Liebe, sondern lag einfach im Wesen der Hexenmeisterinnen begründet, und von ihrem Wesen konnte er sich schlecht gekränkt fühlen.

»Dann steckt also mehr hinter dieser Jennsen?«

»Aber ja. Der Bulle hat nicht nur einen Schwanz, sondern auch Hörner.« Nathan seufzte. »Obwohl ich vieles verstehe, das Althea nicht verstand, begreife selbst ich nicht einmal annähernd genug, um behaupten zu können, ich durchschaute die Entwicklung der Geschehnisse, wie sie sich derzeit abzeichnet, in ihrer ganzen Vielschichtigkeit. Allerdings verstehe ich genug, um zu wissen, daß dies das Wesen allen Seins verändern kann.«

»Ihr seid ein Rahl. Wie kann es sein, daß Ihr über diese Dinge nicht im Bilde seid?«

»Ich wurde in sehr zartem Alter von den Schwestern des Lichts in die Alte Welt entführt und dort im Palast der Propheten gefangen gehalten. Ich bin zwar ein Rahl, aber in mancher Hinsicht weiß ich über meine Heimat D’Hara nur sehr wenig. Und was ich weiß, habe ich größtenteils aus den Büchern der Prophezeiungen gelernt.

In den Prophezeiungen steht nichts über Jennsen und ihresgleichen. Der Grund dafür ist mir erst kürzlich klar geworden – und die schauderhaften Folgen auch.« Er verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. »Diese Jennsen hat also Althea aufgesucht? Woher wußte sie überhaupt von ihr?«

»Ja. Jennsen war der Grund dafür, daß ...« Friedrich wich dem Blick des Mannes aus, denn er wußte nicht, wie dieser zu seinem Verwandten stand; dann entschied er sich, doch damit herauszurücken, selbst auf die Gefahr hin, sich den Zorn seines Besuchers zuzuziehen. »Als Jennsen noch klein war, hat Althea versucht, sie vor Darken Rahl in Sicherheit zu bringen. Dafür machte Darken Rahl sie zum Krüppel und verbannte sie in diesen Sumpf. Er nahm ihr alle Talente, bis auf das der Prophezeiung.«

»Ich weiß«, meinte Nathan, sichtlich betrübt, mit leiser Stimme. »Die ursächlichen Gründe waren mir zwar nicht bekannt, trotzdem habe ich einiges als Weissagung gesehen.«

Friedrich trat einen Schritt vor. »Warum wolltet Ihr ihr dann nicht helfen?«

Diesmal war es Nathan, der den Blick abwandte. »Oh, ich wollte ja. Ich war Gefangener im Palast der Propheten, als sie mich besuchte...«

»Weswegen hatte man Euch eingesperrt?«

»Wegen der unberechtigten Ängste anderer. Menschen wie ich, Propheten, sind äußerst rar. Man fürchtet mich als komischen Kauz, als Verrückten, als Retter und Zerstörer, und das alles nur weil ich Dinge sehe, die anderen verschlossen bleiben. Es gibt Zeiten, da kann ich nicht anders, ich muß einfach versuchen zu verändern, was ich sehe.«

»Wenn es eine Prophezeiung ist, wie könnte man sie dann verändern? Tätet Ihr es, wäre sie nicht wahr und es wäre keine Prophezeiung mehr.«

Gedankenvoll starrte Nathan in den kalten Himmel, während ihm der Wind sein schulterlanges Haar aus dem Gesicht wehte. »Einem Mann wie Euch, der nicht mit der Gabe gesegnet ist, könnte ich das nie schlüssig erklären, in groben Zügen aber verhält es sich wie folgt, Es gibt Bücher mit Prophezeiungen, die Tausende von Jahren zurückreichen. In diesen Büchern sind Ereignisse enthalten, die noch nicht eingetreten sind. Um die Existenz der freien Entscheidung zu gewährleisten, müssen einige Fragen offen bleiben, dies geschieht über so genannte verzweigte Prophezeiungen.«

»Verzweigte Prophezeiungen? Ihr meint Ereignisse, bei denen zwei Entwicklungen denkbar sind?«

Nathan nickte. »Mindestens – manchmal auch sehr viel mehr, zumindest die Schlüsselereignisse. Oftmals enthalten die Bücher jeweils einen Entwurf der Prophezeiung für die verschiedenen Entwicklungen, die sich durch freie Willensentscheidung ergeben können. Stellt sich heraus, daß ein bestimmter Zweig dem tatsachlich eintretenden Ereignis entspricht, gilt ein Zweig der Prophezeiung als wahr, während die anderen im selben Augenblick ungültig werden. Bis zu diesem Moment waren alle entwicklungsfähig. Wäre eine bestimmte Entscheidung anders getroffen worden, hatte sich der betreffende Zweig als gültige Prophezeiung erwiesen. Statt dessen verwelkt dieser Zweig der Prophezeiung und stirbt ab, obwohl das Buch mit diesem Entwurf der Prophezeiung weiterhin erhalten bleibt. So kommt es, daß die Prophezeiungen durchsetzt sind vom toten Holz längst vergangener Zeiten, von all den nicht getroffenen Entscheidungen und den Dingen, die niemals eingetreten sind.«

Friedrichs Verärgerung wuchs abermals. »Und daher wußtet Ihr, was mit Althea geschehen würde? Soll das etwa heißen, ihr hättet sie warnen können?«

»Als sie mich aufsuchte, erzählte ich ihr von einer solchen Gabelung. Ich wußte nicht, wann sie sie erreichen würde, aber ich wußte, daß sie auf beiden Wegen der Tod erwartete. Die Information, die ich ihr gab, ermöglichte ihr zu erkennen, wann die Zeit gekommen war. Ich hatte gehofft, sie fände einen Weg zu umgehen, was ich dort gesehen hatte. Manchmal gibt es verdeckte Gabelungen, von deren Existenz wir nichts ahnen. Damals hoffte ich, das sei der Fall und sie wäre imstande, diese, so sie denn existierten, tatsächlich zu finden.«

Friedrich machte ein skeptisches Gesicht. »Ihr hättet etwas tun können!«

Nathan wies mit der Hand auf das Grab. »Das kommt dabei herum, wenn man die Zukunft zu verändern versucht. Es funktioniert nicht.«

»Aber wenn sie vielleicht...«

Nathan hob warnend seinen raubvogelhaften Blick. »Um Eures Seelenfriedens willen werde ich Euch Folgendes erklären, mehr aber nicht, Auf dem anderen Pfad hätte sie ein derart qualvoller, blutiger, schmerzhafter und grausamer Mord erwartet, daß Ihr Euch nach der Entdeckung ihrer Überreste lieber selbst getötet hättet, als mit diesem Augenblick weiterleben zu müssen. Seid froh, daß es nicht dazu gekommen ist. Es ist nicht geschehen – nicht, weil sie diesen Tod mehr gefürchtet hatte, sondern teils weil sie Euch liebte und sie Euch dieses Leid ersparen wollte.« Nathan deutete abermals auf das Grab. »Sie hat sich für diesen Pfad entschieden.«