Oba sann über den Ausdruck in Nydas Augen nach, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Der Ausdruck des Wiedererkennens in ihrem Gesicht hatte Erinnerungen ausgelöst, die ihn in die Lage versetzten, Verbindungen zwischen bislang unzusammenhängenden Details herzustellen. Er grübelte darüber nach, was er Neues hinzugelernt hatte.
Jennsen war seine Schwester. Beide waren sie Lücken in der Welt.
Schade eigentlich nur, daß sie mit ihm verwandt war. Er fand ihre roten Locken ziemlich bezaubernd, auch wenn ihm die Vorstellung zu schaffen machte, daß sie auf irgendein magisches Talent hindeuten könnten. Seufzend sah Oba sie in Gedanken vor sich. Aber er war ein viel zu prinzipientreuer Mensch, um sie als Geliebte in Betracht zu ziehen, schließlich hatten sie denselben Vater. Trotz ihres hinreißenden Aussehens, und obwohl sich jedesmal, wenn er an sie dachte, in seinen Lenden schmerzhaft etwas regte, ließ seine Redlichkeit einen derartigen Verstoß gegen jede Schicklichkeit nicht zu. Er war schließlich Oba Rahl und kein brunftiges Tier.
Darken Rahl hatte also auch sie gezeugt; das war erstaunlich. Oba wußte nicht recht, was er davon halten sollte. Sie waren über gemeinsame Bande verbunden, denn sie mußten sich gegen eine Welt voller neidischer Menschen zur Wehr setzen, die ihnen ihren hohen gesellschaftlichen Rang streitig machen wollten. Lord Rahl sandte Quadronen aus, die Jagd auf sie machten, von dieser Seite konnte sie also keine Loyalität erwarten. Oba überlegte, ob sie vielleicht zu einer nützlichen Verbündeten taugte.
Andererseits erinnerte er sich noch deutlich an den verängstigten Ausdruck in ihren Augen, als sie ihn angesehen hatte. Vielleicht hatte sie ihm seine Abstammung an den Augen abgelesen – daß er, genau wie sie, ein Nachkömmling Darken Rahls war. Vielleicht hatte sie bereits eigene Pläne, in denen er gar keine Rolle spielte. Vielleicht brachte seine Existenz ihr ganzes Leben durcheinander. Womöglich würde sie auch zu einer Widersacherin werden, die alles für sich allein beanspruchte.
Lord Rahl – ihr leiblicher Bruder – hatte jedenfalls die Absicht, sie beide gar nicht erst hochkommen zu lassen, so viel zumindest schien klar. Er wollte die unermeßlichen Reichtümer mit niemandem teilen, die von Rechts wegen Jennsen und Oba gehörten. Oba fragte sich, ob Jennsen ebenso eigensüchtig war, schließlich schien dieser Hang zum Egoismus in der Familie nicht gerade eine Seltenheit zu sein. Ein reines Wunder, daß Oba dieser unschöne Zug ihres Familienerbes erspart geblieben war.
Und jetzt versuchte Lord Rahl ihn zu verstecken und der Welt seine Existenz zu verheimlichen. Oba lief auf und ab und dachte nach. Es gab noch immer so vieles, das er nicht wußte.
Nach einer Weile hatte er sich wieder beruhigt und tat, was die Stimme ihm aufgetragen hatte. Er trat an die Tür und brachte seinen Mund nah an die Öffnung.
Oba schrie seine Worte nicht etwa heraus – das hatte er nicht nötig, denn die Stimme in seinem Innern würde seine verstärken, so daß sie sehr weit trug.
»Kommt zu mir«, sprach er in die menschenleere Stille draußen vor der Tür.
Oba war selbst erstaunt über sein unerschütterliches Selbstvertrauen; seine unbegrenzten Talente erfüllten ihn mit Verwunderung. Es war daher nur zu erwarten, daß die weniger Begabten gereizt auf ihn reagierten.
»Kommt zu mir«, sprachen er und die Stimme in die triste Dunkelheit jenseits der Tür.
Sie hatten es nicht nötig zu schreien. Ihre Stimmen trugen in der Dunkelheit mühelos, wie Schatten auf den Schwingen der Finsternis.
»Kommt zu mir«, wiederholte er.
Er war Oba Rahl, eine bedeutende Persönlichkeit. Er hatte wichtige Dinge zu erledigen, er konnte nicht einfach in dieser Zelle herumhocken und ihre kleinkarierten Spielchen mitspielen. Allmählich hatte er genug von diesem Unfug; es wurde Zeit, nicht nur sein verbrieftes Recht einzufordern, sondern sich auch zu seinem besonderen Wesen zu bekennen.
»Kommt zu mir«, rief er.
Er rief immer wieder, nicht laut, denn er wußte, sie konnten ihn hören, nicht nachdrücklich, denn sie würden kommen, und erst recht nicht verzweifelt, denn sie würden gehorchen. Zeit verging, aber darauf kam es nicht an, denn sie waren längst unterwegs.
»Kommt zu mir«, murmelte er leise in das lautlose Dunkel.
Von irgendwoher vernahm er eine Antwort in Gestalt von leisen Schritten.
»Kommt zu mir«, betörte er seine entfernten Lauscher.
Er hörte, wie in der Ferne knarrend eine Tür geöffnet wurde. Die Schritte wurden lauter, kamen näher.
»Kommt zu mir«, girrten er und die Stimme.
Dann hörte er, sehr viel näher, die schlurfenden Schritte von Soldaten auf dem Steinfußboden. Ein Schatten fiel im dämmrigen Licht über die kleine Öffnung in der zweiten Tür.
»Was gibt’s denn?«, erkundigte sich eine hallende Männerstimme unschlüssig.
»Du mußt zu mir kommen«, erklärte Oba ihm.
Die Bemerkung war so eindeutig und harmlos, daß der Mann zögerte.
»Komm zu mir, auf der Stelle«, befahlen Oba und die Stimme mit unwiderruflicher Autorität.
Oba lauschte, wie jemand den Schlüssel in der zweiten Tür herumdrehte. Die schwere Tür wurde scharrend aufgezogen. Ein Gardist trat in den winzigen Flur zwischen beiden Türen, während der Schatten eines zweiten Mannes die äußere Türöffnung füllte.
»Was willst du?«, fragte der Gardist mit leichtern Zaudern in der Stimme.
»Wir möchten jetzt gehen«, sagten Oba und die Stimme. »Öffnet die Tür. Es wird Zeit, daß wir diesen Ort verlassen.«
Der Soldat beugte sich vor und machte sich an dem Schloß zu schaffen, bis der Riegel mit einem metallischen, durch die Dunkelheit hallenden Klicken zurückschnappte, die Tür schwang auf. Der andere Soldat trat hinter ihn und warf mit demselben ausdruckslosen Gesicht einen Blick in die Zelle.
»Was, Herr, sollen wir tun?«, erkundigte sich der Gardist und schaute Oba unerschrocken in die Augen.
»Wir müssen gehen«, erklärten Oba und die Stimme. »Und ihr zwei werdet uns hinausbegleiten.«
Die beiden Gardisten nickten und machten kehrt, um Oba aus dem finsteren Verschlag zu führen. Nie wieder würde er sich in enge, winzige Löcher sperren lassen müssen, denn er hatte ja die Stimme auf seiner Seite, also war er unbesiegbar; er war froh, daß er sich daran erinnert hatte.
Althea hatte sich getäuscht, was die Stimme anbetraf; wie alle anderen auch, war sie nur neidisch gewesen. Er lebte, und die Stimme hatte ihm geholfen, sie dagegen war einfach tot. Er fragte sich, wie ihr das wohl gefiel.
Oba befahl den beiden Gardisten, die Türen zu seiner leeren Zelle wieder zu verschließen, wodurch sein Fehlen vermutlich erst eine ganze Weile später bemerkt werden würde. Die Gardisten führten Oba anschließend durch ein Labyrinth aus engen, dunklen Korridoren.
»Ich benötige mein Geld«, sagte Oba. »Wißt ihr, wo es aufbewahrt wird?«
»Ja«, antwortete einer der beiden mit tonloser Stimme.
Sie passierten etliche Eisentüren, dann ging es weiter durch Korridore, die mit derben Steinquadern ausgekleidet waren; schließlich gelangten Oba und seine Eskorte in einen kleinen Raum am Fuß einer engen Wendeltreppe. Ein Soldat ging vor Oba die Treppe hinauf, während der andere die Nachhut bildete. Oben angekommen, geleiteten sie ihn in einen verriegelten Raum, anschließend durch eine weitere Tür.
Die Lampen, die die Gardisten mit hereinnahmen, warfen kantige Schatten zwischen den Regalen, auf denen sich ein Sammelsurium verschiedenster Gegenstände häufte, Kleidungsstücke und Waffen, die unterschiedlichsten persönlichen Dinge, von Spazierstöcken bis hin zu Flöten oder Puppen. Oba ließ den Blick suchend über die mit Einzelstücken vollgestopften Regale schweifen, bückte sich, um unten nachzusehen, stellte sich auf die Zehenspitzen, um die oberen Regale abzusuchen. Er vermutete, daß man all diese Gegenstände Gefangenen vor ihrer Einkerkerung abgenommen hatte.