Kurz vor dem Ende einer Reihe erspähte er den Griff seines Messers, hinter dem Messer die zerlumpten Kleidungsstücke. Sein Stiefelmesser war ebenfalls vorhanden; davor lagen, säuberlich gestapelt, die Leder- und Stoffbeutel, in denen sich sein nicht unbeträchtliches Vermögen befand.
Er war heilfroh, daß er sein Geld zurückhatte, noch mehr freute es ihn aber, endlich wieder den glatten Holzgriff seines Messers in den Fingern zu halten.
»Ihr zwei werdet mich begleiten«, informierte Oba die beiden Gardisten, nachdem er sich mit passenden Anziehsachen neu eingekleidet hatte.
»Wohin sollen wir Euch begleiten?«, wollte einer von ihnen wissen.
Oba ließ sich die Frage gründlich durch den Kopf gehen. »Dies ist mein erster Besuch an diesem Ort; ich würde daher gerne etwas vom Palast sehen.« Er vermied es, ihn als seinen Palast zu bezeichnen, dafür war auch später noch Zeit. Jetzt hatten erst einmal andere Dinge Vorrang.
Er folgte ihnen hinauf durch in den Fels gehauene Treppenhäuser, durch Korridore, vorbei an Wegkreuzungen und unzähligen Treppenfluchten. Soldaten auf Patrouillengang, ein gutes Stück entfernt, erkannten die beiden Gardisten, ohne jedoch groß auf den Mann zu achten, der zwischen ihnen ging.
Als sie vor einer Eisentür anlangten, schloß einer der Soldaten diese auf. und sie traten in den dahinter liegenden, mit einem Fußboden aus poliertem Marmor ausgelegten Gang. Oba war ganz begeistert von der Pracht des Ganges – den gekehlten Säulen an den Seiten und der mit einem Gewölbe überkronten Decke.
Dann bog der Flur abermals ab und führte in einen eindrucksvollen Innenhof von so überwältigender Schönheit, daß der prunkvolle Gang, den sie soeben passiert hatten – bis dahin der eleganteste Ort, den Oba je gesehen hatte –, im Vergleich dazu kaum besser als ein Schweinestall erschien. Offenen Mundes verharrte Oba vollkommen regungslos auf der Stelle und ließ den Blick über das zum Himmel offene Wasserbecken schweifen, dessen gegenüberliegende Seite, wie ein Teich im Wald, von Bäumen – Bäumen! – umstanden war; nur daß sie sich im Innern eines Gebäudes befanden und der Teich von einer niedrigen, bankähnlichen Umfriedung aus poliertem, rostfarbenem Marmor eingefaßt und das Becken selbst mit blau glasierten Kacheln ausgekleidet war. Durch das Wasserbecken glitten Fische, echte Fische – und das im Innern eines Gebäudes.
Noch nie in seinem ganzen Leben war Oba von der Pracht, der Schönheit und schieren Erhabenheit eines Ortes so vollkommen überwältigt gewesen.
»Dies ist also der Palast?«, wandte er sich an seine Begleiter.
»Nur ein kleiner Teil davon«, antwortete der eine.
»Nur ein kleiner Teil«, wiederholte Oba verblüfft. »Ist es in den übrigen Teilen auch so schön wie hier?«
»Nein. Die meisten anderen Gebäudeteile sind erheblich prächtiger, mit hohen Gewölbedecken, Bögen und von mächtigen Säulen unterbrochenen Balkonen.«
»Balkone? Im Innern eines Gebäudes?«
»Ganz recht, damit die Passanten in den oberen Stockwerken auf die unteren Stockwerke, die prächtigen Innenhöfe und Gevierte hinabblicken können.«
»Auf einigen Ebenen bieten Händler ihre Waren feil«, ergänzte der andere. »Manche davon sind der Öffentlichkeit zugänglich, andere wiederum enthalten die Quartiere der Soldaten oder des Personals. Es gibt auch einige Bereiche, in denen Besucher ein Zimmer mieten können.«
Oba nahm dies alles in sich auf, während er die gut gekleideten Menschen anstarrte, die sich überall durch den Palast bewegten, all das Glas, den Marmor und das polierte Holz.
»Sobald ich mir noch ein wenig mehr vom Palast angesehen habe«, ließ er seine Begleiter wissen, »möchte ich ein ruhiges Zimmer, in dem ich völlig ungestört bin – etwas abseits gelegen, damit man nicht auf mich aufmerksam wird. Zuvor werde ich mir noch etwas Standesgemäßes zum Anziehen sowie einige andere Dinge besorgen. Ihr werdet Wache stehen und dafür sorgen, daß niemand von meiner Anwesenheit erfährt, während ich ein Bad nehme und mich gründlich ausschlafe.«
»Wie lange werden wir voraussichtlich über Euch wachen?«, erkundigte sich der andere Soldat. »Man wird uns vermissen, wenn wir zu lange fortbleiben. Und wenn wir noch länger fortbleiben, wird man uns suchen kommen und Eure Zelle leer vorfinden. Anschließend wird man sich auf die Suche nach Euch machen; dann wird es nicht mehr lange dauern, bis man Euch hier findet.«
Oba überlegte. »Ich hoffe, morgen abreisen zu können. Wird man Euch bis dahin vermissen?«
»Nein«, meinte einer der beiden, den Blick leer bis auf den Wunsch, Obas Anordnungen Folge zu leisten. »Wir sind gleich nach Ende unserer Wachschicht losgegangen; vor morgen Nachmittag dürfte uns niemand vermissen.«
Oba lächelte; er hatte offenbar genau die richtigen Männer ausgewählt. »Dann bin ich längst unterwegs; aber bis dahin möchte ich meinen Aufenthalt hier genießen und mir noch einen Teil des Palasts anschauen.«
Obas Finger glitten über den Griff seines Messers. »Es könnte sein, daß ich mir für den heutigen Abend eine Frau wünsche, die mir beim Abendessen Gesellschaft leistet; eine Frau, die schweigen kann.«
Die beiden Männer verbeugten sich.
Bevor Oba sich endgültig verabschiedete, würde er die beiden in winzige Aschehäufchen auf dem Fußboden eines menschenleeren Korridors verwandeln. Diese zwei würden niemandem erzählen, warum seine Zelle leer war.
Und danach ... nun, es war fast Frühling, wer vermochte schon zu sagen, was ihm bis dahin noch alles in den Sinn kam?
Eins aber ganz bestimmt, Früher oder später würde er Jennsen aufspüren müssen.
44
Jennsens Staunen begann allmählich nachzulassen. Der Anblick der schier endlosen Fläche voller Soldaten, die einer Flut dunkel gekleideter Menschen gleich das Tiefland überschwemmten, verlor zusehends seinen Reiz. Die gewaltige Armee hatte das weite Flachland zwischen den sanft geschwungenen Hügeln in trostlosen braunen Morast verwandelt. Zwischen den Soldaten drängte sich eine unvorstellbar große Zahl von Zelten, Wagen und Pferden. Das Summen dieser riesigen Horde, unterbrochen von Geschrei und Gejohle, von Rufen, Pfiffen und dem Klirren der Ausrüstung, von Hufgeklapper, dem Poltern der Wagen und dem klingenden Rhythmus von Hämmern auf Stahl, dem schrillen Wiehern der Pferde und gelegentlichen, vereinzelten Rufen, die in Jennsens Ohren fast so klangen, als könnten sie von Frauen stammen, war über Meilen hinweg zu hören.
Es war, als blickte man auf eine unfaßbar große Stadt hinunter, allerdings ohne Gebäude oder erkennbaren Plan, so als sei alle Erfindungsgabe und Ordnung sowie überhaupt alles, was den Menschen ausmachte, wie durch Magie abhanden gekommen, so daß die danach zurückbleibenden Menschen unter den dunkel aufziehenden Wolken fast zu Wilden wurden, die sich im Kampf gegen die Unbilden der Natur zu behaupten versuchten, und das unter unbarmherzigsten Bedingungen.
Jetzt, da der Boden endlich frostfrei war, war die morastige Erde so weit getrocknet und trittfest geworden, daß die Armee schließlich aus dem im eigenen Schmutz erstickenden Winterquartier hatte abziehen können, um ihren Vorstoß gegen die Stadt Aydindril, den Herrschaftssitz der Midlands, zu beginnen. Noch kam ihre Frühjahrsoffensive Richtung Norden nicht sehr schnell voran, dennoch war ihr Vormarsch unaufhaltsam. Sebastian meinte, wenn die Männer ihre Beute erst einmal gewittert hatten, beschleunige das ihren Puls und ihre Schritte wie von selbst.
Bevor Jennsen und Sebastian auf die Armee gestoßen waren, hatten sie eine der schönsten Landschaften durchquert, die Jennsen in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekommen hatte. Sie sehnte sich danach, diese verwunschenen Wälder zu erkunden, und bildete sich ein, den Rest ihres Lebens zufrieden inmitten dieses Waldlandes verbringen zu können; folglich tat sie sich schwer damit, die Midlands als einen Ort gottloser Magie abzutun.