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»Natürlich nicht, aber...«

Er richtete zögernd seine blauen Augen auf sie. »Als diese Rohlinge in dein Haus eindrangen und deine Mutter ermordeten, von welcher Art Soldaten hättest du dich in diesem Moment lieber beschützen lassen?«

Jennsen reagierte leicht verstört. »Ich weiß wirklich nicht, Sebastian, was das damit zu tun hat...«

»Würdest du elegant herausgeputzten Soldaten in poliertem Leder und mit höflichen Manieren – wie sie ein angeberischer König bei einem eleganten Abendessen aufmarschieren ließe – etwa zutrauen, deine geliebte Mutter in einem letzten, verzweifelten Aufbäumen gegen den Ansturm einer zu allem entschlossenen Mörderbande zu verteidigen? Oder wäre es dir lieber, wenn sich noch unzivilisiertere Männer schützend vor deine Mutter stellten? Wäre es dir nicht auch lieber, wenn Männer, die die schlimmsten Kampfmethoden beherrschen, zwischen ihr und den gewalttätigen Kerlen stünden, die fest entschlossen sind, sie umzubringen?«

»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst«, mußte Jennsen zugeben.

»In genau dieser Funktion dienen all diese Soldaten ihren Lieben daheim in der Alten Welt.«

Die unerwartete Begegnung mit der schrecklichen Erinnerung war so entmutigend und schmerzhaft, daß sie ihre liebe Not hatte, sie wieder aus ihren Gedanken zu verbannen; außerdem fühlte sie sich durch Sebastians aufgebrachte Erwiderung zurechtgewiesen. Sie war aus einem ganz bestimmten Grund hierher gekommen, und dieser Grund allein zählte. Wenn die gegen die Streitkräfte Lord Rahls aufgebotenen Männer zu Gewalt und Gemeinheit neigten, um so besser.

Erst als sie das schwer bewachte Gelände rings um die Zelte des Kaisers erreicht hatten, sah Jennsen andere Frauen. Es war eine seltsame Mischung, Manche wirkten sehr jung, andere dagegen waren bereits vom Alter gebeugt. Die meisten maßen sie mit neugierigen Blicken, einige betrachteten sie mit leisem Argwohn, und einige wenige schienen sogar leicht alarmiert.

»Wieso tragen die Frauen alle einen Ring durch ihre Unterlippe?«, wandte sie sich flüsternd an Sebastian.

Er ließ den Blick über die Frauen bei den Zelten schweifen. »Es ist ein Zeichen ihrer Treue zur Imperialen Ordnung und zu Kaiser Jagang.«

Jennsen fand diese Art des Treuebeweises nicht nur seltsam, sondern geradezu besorgniserregend. Die meisten Frauen trugen grobe Kleider von unbestimmter Farbe, die meisten hatten ungepflegtes Haar; einige von ihnen waren etwas besser gekleidet, aber nicht wesentlich.

Als sie abstiegen, nahmen sich Soldaten ihrer Pferde an. Jennsen streichelte Rustys Ohr und sprach mit leiser Stimme beruhigend auf das nervöse Tier ein. Als Rusty besänftigt war, folgte Pete ihr zufrieden hinüber in den Bereich der Stallungen. Die Trennung von ihrer ständigen Gefährtin erinnerte Jennsen unerwartet daran, wie sehr sie Betty vermißte.

Die Frauen zogen sich, ohne sie aus den Augen zu lassen, weiter in den Hintergrund zurück, als hätten sie Angst, ihr zu nahe zu kommen. Jennsen war dieses Verhalten gewöhnt; die Menschen fürchteten sich vor ihren roten Haaren. Es war ein selten warmer Frühlingstag, und die Aussicht auf weitere solcher Tage hatte Jennsen in eine Art Rauschzustand versetzt, so daß sie ganz vergessen hatte, ihre Kapuze hochzuschlagen, als sie sich dem Lager näherten. Als sie sie jetzt überstreifen wollte, fiel Sebastian ihr in den Arm.

»Das ist nicht nötig.« Er deutete mit einem Neigen seines Kopfes auf die Frauen. »Viele von ihnen sind Schwestern des Lichts. Sie fürchten sich nicht etwa vor Magie, sondern haben Angst, ein Fremder könnte in das Lager des Kaisers eindringen.«

In diesem Moment erkannte Jennsen den eigentlichen Grund für die befremdlichen Blicke einiger Frauen: Sie besaßen die Gabe und nahmen sie als Lücke in der Welt wahr. Sie konnten sie mit den Augen sehen, aber nicht mit ihrer Gabe. Sie zwang sich, den Frauen zuzulächeln, erntete aber nur starre Blicke.

»Wieso wird der Kaiser von seinen Männern abgeschirmt und bewacht?«, fragte sie Sebastian.

»Bei so vielen Soldaten kann man nie mit Sicherheit ausschließen, daß einer von ihnen ein Eindringling ist oder womöglich gar ein gefährlicher Verrückter, der versucht, sich auf Kosten Kaiser Jagangs einen Namen zu machen. Eine so unsinnige Tat würde uns alle unseres großen Führers berauben. Jetzt, da so viel auf dem Spiel steht, können wir nicht vorsichtig genug sein.«

Dafür vermochte sogar Jennsen ein gewisses Verständnis aufzubringen, schließlich war auch Sebastian unbefugt in den Palast des Volkes eingedrungen. Wäre ihm dort ein wichtiger Mann über den Weg gelaufen, hätte er größeres Unheil anrichten können. Den D’Haranern bereitete diese Art der Bedrohung Sorge; sie hatten sogar den richtigen Mann festgenommen, doch zum Glück hatte Jennsen ihn befreien können.

Sebastian legte ihr den Arm um die Hüfte und drängte sie weiter in Richtung der beiden hünenhaften, stummen Soldaten, die vor dem Zelt des Kaisers Wache hielten. Nachdem die beiden ihm zugenickt hatten, trat Sebastian zwischen sie und schlug den schweren, mit goldenen und silbernen Rundbildern verzierten Türvorhang zur Seite.

Ein so üppig ausgestattetes Zelt hätte Jennsen sich niemals vorzustellen gewagt, geschweige denn, daß sie so etwas je mit eigenen Augen zu sehen bekäme, doch was sie jetzt, als sie ins Innere trat, erblickte, war noch weit prächtiger, als sein Äußeres vermuten ließ. Der Fußboden war vollständig mit einer Vielzahl kreuz und quer verlegter Teppiche bedeckt; eine Auswahl geflochtener, mit exotischen Szenen und verschwenderischen Mustern versehener Wandbehänge unterteilte den Innenraum in verschiedene Gemächer; kunstvolle Glasschalen, zartes Keramikgeschirr und hohe, bemalte Vasen standen auf überall im Raum verteilten polierten Tischen und Truhen. Zur Seite hin gab es sogar einen hohen Vitrinenschrank mit gläserner Front, in dem auf Gestellen bunt bemalte Teller ausgestellt waren. Farbige Kissen in den unterschiedlichsten Größen säumten den Rand des Fußbodens; oben ließen einige mit reiner Seide verhängte Öffnungen gedämpftes Licht herein. Überall brannten Duftkerzen, während die unzähligen Teppiche und Wandbehänge eine Oase der Stille schufen. Man kam sich vor wie im Innern eines Heiligtums.

Drinnen ging eine Anzahl von Frauen, alle mit besagtem Ring in der Unterlippe, geschäftig den ihnen zugeteilten Aufgaben nach. Während die meisten ganz in ihrer Arbeit aufzugehen schienen, musterte eine Frau Jennsen mit kühlem Blick aus den Augenwinkeln. Sie war mittleren Alters, breitschultrig und trug ein schlichtes dunkelgraues, bis zum Hals geschlossenes Kleid; ihr grauschwarz-meliertes Haar hatte sie locker nach hinten gebunden. Im Großen und Ganzen wirkte sie unauffällig, wäre da nicht dieses durchtriebene, selbstzufriedene Schmunzeln gewesen, das sich für immer in ihr Gesicht eingegraben zu haben schien. Der Blick ließ Jennsen stutzig werden.

Als sich ihre Augen begegneten, regte sich plötzlich die Stimme, rief Jennsens Namen in ihrem gespenstischen, leblosen Flüsterton und forderte sie auf, sich hinzugeben. Aus irgendeinem Grund durchlief Jennsen für einen Augenblick eine eiskalte Ahnung, Diese Frau wußte, daß die Stimme gesprochen hatte! Jennsen verwarf jedoch den sonderbaren Gedanken und beschloß, ihn allein auf ihren Gesichtsausdruck zurückzuführen, der ein Gefühl absoluter Überlegenheit ausstrahlte.

Eine andere Frau war damit beschäftigt, die Teppiche mit einem Kleiderbesen abzubürsten; wieder eine andere wechselte tropfende Kerzen aus. Weitere Frauen – einige von ihnen zweifellos Schwestern des Lichts – liefen geschäftig zwischen diesem Raum und den dahinter liegenden Gemächern hin und her und kümmerten sich um die Unmengen von Kissen, Lampen, Vasen mit Blumen. Ein schmächtiger junger Mann, bekleidet nur mit einer baumwollenen Pluderhose, war damit beschäftigt, die Fransen der Teppiche vor den Durchgängen in die hinteren Gemächer mit einem Kamm zu ordnen. Bis auf die braunäugige Frau, die gerade die hohen Vasen polierte, waren alle ganz auf ihre Arbeit konzentriert, und keine von ihnen nahm besondere Notiz von den Besuchern, die soeben das kaiserliche Zelt betreten hatten.