Kaiser Jagang riß einer knusprigen Gans mit einer drehenden Bewegung ein Bein aus. Seine Ellbogen auf die Tischkante gestützt, beugte er sich vor und vollführte mit seinem Beutestück eine vage Geste. »Ich habe keine Ahnung.«
Sebastian ließ sein Messer sinken. »Was wollt Ihr damit sagen? Ich bin mit den örtlichen Gegebenheiten noch immer gut vertraut. Ihr seid nur ein oder zwei Tagesmärsche entfernt.« Sein Tonfall war respektvoll, die Besorgnis darin aber nicht zu überhören. »Wie könnt Ihr einmarschieren, wenn Ihr nicht wißt, was Euch in Aydindril erwartet?«
Jagang riß mit den Zähnen ein großes Stück aus dem dicken Ende der Gänsekeule, deren Knochen über die Finger seiner beiden Hände hinausragte; Fleisch und Finger troffen vor Bratenfett.
»Nun«, meinte er nach einer Weile, mit dem Knochen vage über seine Schulter deutend, bevor er ihn auf einem Teller ablegte, »wir haben Kundschafter und Patrouillen ausgesandt, um uns einen Überblick zu verschaffen, bislang ist jedoch noch keiner zurückgekehrt.«
»Nicht ein Einziger?« Seine Besorgnis verlieh Sebastians Stimme einen scharfen Unterton.
Jagang ergriff ein Messer und schnitt auf einer seitlich stehenden Platte ein dickes Stück Lammbraten ab. »Kein Einziger«, bestätigte er und spießte das Stück mit dem Messer auf.
Sebastian stützte seine Ellbogen auf die Tischkante, legte die Hände aneinander und dachte nach.
»Die Burg der Zauberer befindet sich in Aydindril«, meinte er nach einer Weile mit ruhiger Stimme. »Ich habe sie gesehen, als ich die Stadt vergangenes Jahr auskundschaftete. Sie liegt an einem steilen Berghang, mit Blick über die gesamte Stadt.«
»Euer Bericht ist mir noch gut im Gedächtnis«, antwortete Jagang.
Jennsen hatte gern nachgefragt, was man sich unter einer »Burg der Zauberer« vorzustellen habe, allerdings nicht gern genug, um ihr Schweigen zu brechen, während die beiden Männer sich unterhielten.
Sebastian rieb sich die Hände. »Dürfte ich dann Euren Plan erfahren?«
Der Kaiser schnippte gebieterisch mit den Fingern, woraufhin sich sämtliche Diener augenblicklich entfernten; Jennsen wäre gern mit ihnen gegangen. Draußen polterte Gewitterdonner, und der gelegentlich auffrischende Wind peitschte Regenschauer gegen das Zelt. Die über den Tisch verteilten Kerzen und Lampen beleuchteten die beiden Männer und ihre unmittelbare Umgebung, beließen die weichen Teppiche und Wände jedoch in nahezu vollständiger Dunkelheit.
Kaiser Jagang streifte Jennsen kurz mit einem Blick, bevor er seine dämmrigen Augen abermals Sebastian zuwandte. »Ich habe mich zu einem Überraschungsangriff entschlossen, und zwar nicht mit der gesamten Armee, wie man es vermutlich dort erwartet, sondern mit einer Kavalleriestreitmacht, klein genug, um manövrierfähig zu bleiben, andererseits aber auch stark genug, um die Situation vollständig zu kontrollieren. Selbstverständlich wird uns ein angemessenes Kontingent aus mit der Gabe Gesegneten begleiten.«
Die Dauer dieser knappen Unterredung hatte genügt, um die Stimmung in tödlichen Ernst umschlagen zu lassen. Jennsen spürte, daß sie zur stummen Zeugin der entscheidenden Augenblicke eines Ereignisses von großer Tragweite wurde. Es war beängstigend, sich all die Menschenleben vorzustellen, die aufgrund der Worte dieser beiden Männer auf dem Spiel standen.
Sebastian wägte des Kaisers Worte eine Weile sehr genau ab, bevor er antwortete. »Habt Ihr eine Ahnung, wie Aydindril den Winter überstanden hat?«
Jagang schüttelte den Kopf. Er zog einen mächtigen Brocken Lammfleisch von seiner Messerspitze und fuhr kauend fort.
»Die Mutter Konfessor mag alles Mögliche sein, aber dumm ist sie ganz sicher nicht. Auf Grund unserer Marschroute, unserer Truppenbewegungen, die sie hat beobachten lassen, aufgrund der bereits gefallenen Städte und somit der von uns eingeschlagenen Route, sowie aufgrund der unzähligen Berichte und Informationen, die sie zweifellos zusammengetragen hat, dürfte sie schon seit geraumer Zeit wissen, daß ich mit Beginn des Frühlings gegen Aydindril marschieren will. Ich habe ihnen reichlich Zeit gegeben, im Schweiße ihres Angesichts über ihr Schicksal nachzudenken. Vermutlich zittern sie bereits vor Angst. Ich glaube allerdings nicht, daß sie es tatsächlich übers Herz bringt zu fliehen.«
»Ihr glaubt, die Gemahlin des Lord Rahl ist in der Stadt?«, platzte Jennsen, völlig überrascht, heraus. »Die Mutter Konfessor höchstpersönlich?«
Die beiden Männer unterbrachen ihr Gespräch und sahen sie an; im Zelt war es mucksmäuschenstill.
Jennsen schrumpfte innerlich zusammen. »Verzeiht.«
Der Kaiser feixte. »Warum sollte ich Euch verzeihen? Ihr habt den Nagel auf den Kopf getroffen.« Er wies mit seiner Messerklinge auf Sebastian. »Eine außergewöhnliche Frau, die Ihr da mitgebracht habt. Eine Frau mit einem klugen Köpfchen auf den Schultern.«
Sebastian strich Jennsen über den Rücken. »Und außerdem hübsch.«
Jagang betrachtete sie mit seinen schwarz glänzenden Augen. »Ja, das ist wahr.« Ohne hinzusehen, entnahm er einer neben ihm stehenden Glasschale eine Hand voll Oliven. »Nun, Jennsen Rahl, wie denkt Ihr darüber?«
Da sie sich bereits zu Wort gemeldet hatte, konnte sie ihm jetzt eine Antwort darauf schlecht verweigern. Sie nahm sich zusammen und dachte über die Frage nach.
»Wenn ich mich vor Lord Rahl versteckt hielt, versuchte ich gewöhnlich alles zu vermeiden, was ihm meinen Aufenthaltsort hätte verraten können. Ich tat alles, um ihn gewissermaßen mit Blindheit zu schlagen. Vielleicht machen sie es ganz genauso; sie versuchen Euch mit Blindheit zu schlagen.«
»Auf genau diesen Gedanken war ich auch schon gekommen«, meinte Sebastian. »Angenommen, sie haben entsetzliche Angst; dann könnte es doch durchaus sein, daß sie versuchen, jeden Kundschafter und jede Patrouille auszuschalten, um uns eine nicht vorhandene Stärke vorzugaukeln und etwaige Pläne zu ihrer Verteidigung vor uns geheim zu halten.«
»Und auf diese Weise wenigstens den Vorteil der Überraschung nicht aus den Händen zu geben«, fügte Jennsen hinzu.
»Das war auch meine Überlegung«, sagte Jagang. Er grinste Sebastian an. »Kein Wunder, daß Ihr mir eine solche Frau anschleppt – sie ist Strategin, genau wie Ihr.« Jagang zwinkerte Jennsen zu, dann läutete er eine neben sich stehende Glocke.
In einer Türöffnung erschien eine Frau; es war die mit dem grauen Kleid und dem nach hinten gebundenen grauschwarzen Haar. »Ja, Exzellenz?«
»Bringt der jungen Frau hier Obst und Zuckerwerk.«
Nachdem sie sich mit einer Verbeugung entfernt hatte, wurde der Kaiser wieder ernst. »Aus diesem Grund halte ich es für das Beste, eine wesentlich kleinere Streitmacht einzusetzen, als sie mit Sicherheit erwarten, eine, die im Stande ist, mit schnellen Manövern auf alle Verteidigungsmaßnahmen zu reagieren, mit denen sie uns in die Falle zu locken versuchen. Unsere zahlenmäßig schwachen Patrouillen können sie vielleicht überwältigen, nicht aber eine beträchtliche Streitmacht aus Kavallerie und den mit der Gabe Gesegneten. Falls nötig, können wir die Stadt jederzeit überrennen. Nachdem die Männer den ganzen Winter untätig herumgesessen haben, sind sie wahrscheinlich mehr als froh, endlich losschlagen zu können. Aber es widerstrebt mir, so zu beginnen, wie diese Leute in Aydindril es erwarten.«
Sebastian stocherte mit seinem Messer in einer dicken Scheibe Roastbeef herum, während er überlegte. »Sie könnte sich im Konfessoren-Palast aufhalten.« Er richtete seinen Blick wieder auf Jagang. »Die Mutter Konfessor könnte sich zu guter letzt doch durchgerungen haben, Widerstand zu leisten.«
»Genau das denke ich auch«, pflichtete Kaiser Jagang ihm bei. Draußen hatte das Frühlingsgewitter an Heftigkeit zugenommen; ein eisiger Wind pfiff heulend um die Zelte.
Jennsen konnte sich nicht langer beherrschen. »Glaubt Ihr wirklich, sie ist dort?«, fragte sie die beiden Männer. »Ihr glaubt allen Ernstes, sie würde ausharren, obwohl sie weiß, daß Ihr mit einer riesigen Armee anrückt?«