Der Blick in seinen schwarzen Rabenaugen war todernst.
Draußen polterte ein Donner; mittlerweile hatte der Regen wieder zugenommen. Ein flackernder Blitz tauchte das Zelt von außen in gespenstisches Licht, das den Schein der Kerze um so trüber erscheinen ließ, als das Gleißen abrupt endete und sie, wieder in nahezu völliger Dunkelheit sitzend, auf das Donnergrollen lauschten.
»Sie müssen nur einen Bann über mich sprechen, der seine Bewacher ablenkt, damit ich nahe genug an ihn herankomme«, erklärte Jennsen, nachdem der Donner verhallt war. Sie zog ihr Messer aus der Scheide und hielt es in die Höhe, um das kunstvoll eingravierte »R« in seinem Silbergriff zu betrachten. »Dann endlich kann ich ihm mein Messer in sein gottloses Herz stoßen; und zwar dieses Messer – sein eigenes. Sebastian hat mir erklärt, wie wichtig es ist, den Feind mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.«
»Da hat Sebastian Euch klug geraten. Nun, mit der gütigen Führung des Schöpfers werden wir auch obsiegen. Laßt uns beten, daß wir die beiden fassen, diese Geschichte zum Abschluß gebracht werden kann, die Geißel der Magie beseitigt wird und die Menschheit endlich ein Leben in Frieden leben kann, wie es dein Willen des Schöpfers entspricht.«
Jennsen und Sebastian pflichteten den beschwörenden Worten mit einem Nicken bei.
»Sollten wir sie in Aydindril aufgreifen«, verkündete Jagang mit einem tiefen Blick in ihre Augen, »so verspreche ich Euch, werdet Ihr es sein, die ihm die Klinge ins Herz stößt, auf daß Eure Mutter endlich ihren Frieden findet.«
»Ich danke Euch«, erwiderte Jennsen voller Dankbarkeit mit leiser Stimme.
Er fragte nicht einmal, was sie überhaupt zu einer solchen Tat prädestinierte. Vielleicht hatte ihm die Gewißheit in ihrer Stimme verraten, daß sich dahinter mehr verbarg, als er derzeit wußte – daß sie einen besonderen Vorzug besaß, der sie zu einer solchen Tat befähigte.
Und es verbarg sich tatsächlich mehr dahinter, als sowohl er als auch Sebastian wußten. Jennsen hatte ausgiebig und gründlich darüber nachgedacht und sämtliche Details während ihrer langen und mühseligen Reise nach Aydindril zu einem Bild zusammengefügt, das sie endlich das wahre Ausmaß ihrer Einzigartigkeit erkennen ließ – und den Grund, warum ausgerechnet sie es sein mußte, die Richard Rahl töten würde.
Schließlich war in Jennsen die Erkenntnis gereift, daß nur sie allein dazu überhaupt fähig und geboren war, denn auf eine entscheidende, gefährliche und grundsätzliche Weise war sie ... unbesiegbar.
Jetzt wußte sie, daß sie es schon immer gewesen war.
46
Hoch zu Roß auf Rustys Rücken, den böig kalten Wind im Haar, bestaunte Jennsen die Pracht des Palasts der Konfessoren. Unmittelbar neben ihr saß, auf einem nervös tänzelnden Pete, Sebastian. Kaiser Jagang, dessen herrlicher Apfelschimmel mit einem Huf auf der Straße scharrte, wartete auf Sebastians anderer Seite, umdrängt von einem Kader aus Offizieren und Beratern, die jedoch schwiegen. Jagang betrachtete den Palast mit mißmutig finsterer Miene; düstere, bedrohlich wirkende Schatten trieben, einem aufziehenden Unwetter gleich, an der Oberfläche seiner schwarzgrauen Augen.
Bislang war der Vormarsch auf Aydindril völlig anders verlaufen als erwartet, und alle waren in großer Anspannung.
Hinter ihnen hatte ein Kontingent aus Schwestern des Lichts Aufstellung genommen; sie blieben jedoch unter sich und konzentrierten sich offenbar auf Angelegenheiten der Magie. Obwohl bislang keine der Schwestern Gelegenheit hatte, mit Jennsen zu sprechen, waren sich alle ihrer Anwesenheit deutlich bewußt und ließen sie so gut wie nie aus den Augen. Der größte Teil von ihnen war jedoch in verschiedene Richtungen ausgeschwärmt, während der Kaiser die Abteilung der Kavallerie der Imperialen Ordnung, einer dunklen Flutwelle gleich, über Bauernhöfe, Straßen und Hügel hinweg, um Häuser und Scheunen herum, immer weiter irgendwelche Straßen entlang und schließlich – beim Vordringen in die äußersten Randbezirke der Stadt Aydindril – zwischen die ersten Gebäude geführt hatte. Die riesige Stadt lag jetzt lautlos und still in ihrer ganzen Ausdehnung vor ihnen.
Sebastian hatte in der vergangenen Nacht unruhig geschlafen. Das wußte Jennsen, weil sie am Vorabend dieser so entscheidenden Schlacht praktisch überhaupt kein Auge zugetan hatte. Die Aussicht, endlich das Messer in ihrem Gürtel benutzen zu können, ließ sie dennoch hellwach sein.
Hinter den Schwestern warteten über vierzigtausend Elitesoldaten der Kavallerie der Imperialen Ordnung, manche mit angriffsbereit gesenkten Langspießen und Lanzen, andere mit Schwertern oder Streitäxten in den Händen. Jeder von ihnen hatte einen Ring im linken Nasenflügel. Obwohl die meisten von ihnen Bärte trugen und einige Glücksbringer in ihre langen, dunklen fettigen Haare geflochten hatten, gab es, offenbar aus Loyalität zu Kaiser Jagang, auch eine ganze Reihe kahl rasierter Schädel. Alle waren bis zum Zerreißen gespannt, Eroberer, die nur darauf warteten, die Stadt im Sturm zu nehmen.
Außer Jennsen und Sebastian hatten alle Anwesenden, abgesehen davon, daß sie Elitetruppen der Kavallerie, verläßliche Offiziere oder Schwestern des Lichts waren, etwas Entscheidendes gemeinsam, Sie alle kannten die Mutter Konfessor vom Sehen. Soweit Jennsen darüber unterrichtet war, hatte die Mutter Konfessor sowohl kleinere, überfallartige Angriffe gegen das Lager der Imperialen Ordnung angeführt als auch an Schlachten teilgenommen, in denen eine große Zahl Soldaten und Schwestern sie gesehen hatte. Nur wer die Mutter Konfessor vom Sehen kannte, war dazu auserkoren, mit Kaiser Jagang in die Stadt zu reiten. Jagang wollte unbedingt vermeiden, daß sie der tödlichen Umzingelung entging, indem sie in der Menge untertauchte oder womöglich als gemeine Wäscherin verkleidet floh. In Anbetracht der bisher vorgefundenen Situation hatte sich diese Befürchtung in Nichts aufgelöst.
Fröstelnd nicht nur wegen des kalten Windes sondern auch wegen der leidenschaftlichen Kampflust, die in den Augen der Soldaten aufblitzte, versuchte Jennsen das Zittern ihrer Hände zu unterbinden, indem sie den Sattelknauf fest umklammerte.
Jennsen.
Bestimmt zum hundertsten Mal an diesem Morgen prüfte sie nach, ob ihr Messer griffbereit in seiner Scheide steckte. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, drückte sie es, das metallische Klicken beim Einrasten zufrieden registrierend, wieder fest hinein. Sie hatte die Armee hierher begleitet, weil sie sich als Teil des Ganzen sah – und weil sie eine Aufgabe zu erledigen hatte.
Gib dich hin.
Endlich war sie die Jägerin und nicht mehr die Gejagte.
Gib deinen Willen hin, Jennsen. Gib deinen Körper hin.
»Laß mich in Frieden«, rief sie gereizt, weil die Stimme einfach keine Ruhe geben wollte.
Sebastian warf ihr einen mißbilligenden Blick zu. »Wie?«
Verärgert, daß sie es diesmal aus lauter Nachlässigkeit laut gesagt hatte, schüttelte Jennsen nur den Kopf. Sebastian kehrte wieder zu seinen eigenen Gedanken zurück, betrachtete die vor ihnen liegende Stadt und ließ den Blick forschend über das eindrucksvolle Labyrinth aus dicht gedrängten Gebäuden, Straßen und engen Gassen schweifen. Es gab nur eines, was dieser Stadt fehlte, und dieses eine versetzte alle Anwesenden in eine überaus gereizte und angespannte Stimmung.
Aus den Augenwinkeln sah Jennsen die Schwestern des Lichts untereinander tuscheln – alle bis auf eine, Schwester Perdita mit dem dunkelgrauen Kleid und dem bereits leicht angegrauten und lose nach hinten gebundenen Haar. Als ihre Blicke sich begegneten, setzte die Frau ihr typisches durchtriebenes, selbstzufriedenes Schmunzeln auf, so als könnte sie Jennsen bis auf den Grund der Seele blicken. Da es auf sie möglicherweise ganz anders wirkte als von der Frau beabsichtigt, quittierte Jennsen es, so gut es irgend ging, lächelnd und mit einem leichten Neigen des Kopfes, bevor sie sich wieder abwandte.