Wie alle anderen auch, betrachtete Jennsen den Palast auf dem Hügel in der Ferne. Es wäre auch nicht leicht gewesen, ihn zu übersehen, wie er sich, gleich Schnee auf schieferdunklem Grund, gegen die grauen Flanken der Berge abhob. Die hohen Fenster auf der Fassadenseite lagen zwischen hoch aufragenden, mit goldenen Kapitellen überkronten Säulen. Im Hintergrund, exakt über der Mitte, erhob sich weit über die hohen Mauern hinaus ein Kuppeldach. Jennsen hatte ihre liebe Mühe, die Pracht eines so wunderschönen Gebäudes mit der ruchlosen Herrschaft der Mutter Konfessor in Einklang zu bringen.
Das drohende, gespenstische Äußere der Burg der Zauberer hoch droben auf einem Berg jenseits des Palasts schien sehr viel eher der Mutter Konfessor zu entsprechen. Jennsen bemerkte, daß niemand gern zu diesem unheilvollen Ort hinaufsah; jeder beeilte sich, den Blick rasch wieder auf ein weniger verstörendes Ziel zu richten.
Die Burg, die auf sie herabzublicken schien, war – außer dem Palast des Volkes in D’Hara – das größte von Menschenhand geschaffene Bauwerk, das Jennsen je gesehen hatte. Graue Wolkenfetzen umwehten seine bis in schwindelerregende Höhen reichenden Außenmauern aus dunklem Stein. Die eigentliche, hinter diesen himmelstrebenden Mauern liegende Burg schien aus einer verwirrenden Anhäufung von Festungswällen, Brustwehren, mit Zinnen versehenen Mauern, Türmen, Giebeln, Verbindungsbrücken und Wehrwegen zu bestehen. Jennsen hätte nie für möglich gehalten, daß ein aus Stein erbautes Gebäude eine derart lebendige Bedrohlichkeit verströmen konnte.
Mit dem Geräusch des Windes, der stöhnend durch die kahlen Zweige der majestätischen Bäume fuhr, die die Straße säumten, drang plötzlich auch das Geräusch galoppierender Hufe an ihr Ohr. Aller Augen wandten sich den bärtigen, langhaarigen Männern zu, die, wehende Fetzen aus Fell und Häuten hinter sich im Wind, tief über die Widerriste ihrer Pferde gebeugt, auf der Straße rechts von ihnen herangejagt kamen. Jennsen erkannte sie an der fleckigweißen, gescheckten Färbung des führenden Tieres. Sie gehörten zu einem kleinen Aufklärungstrupp, den der Kaiser Stunden zuvor vorausgeschickt hatte. Weit drüben im Westen kehrte der entsprechende Trupp aus der anderen Richtung zurück; bislang waren sie nicht mehr als winzige Punkte, die sich von den fernen Vorbergen herunterbewegten.
Als die erste Reitergruppe zu Kaiser Jagang und seinen Beratern herangestürmt kam, bedeckte Jennsen ihren Mund mit einem Zipfel ihres Umhangs, damit man ihr durch die Staubwolke hervorgerufenes Gehuste nicht sah.
Der stämmige Mann an der Spitze des Reitertrupps riß sein scheckiges Pferd herum; seine fettigen Haarsträhnen peitschten herum wie der weiße Schweif des Pferdes. »Nichts, Euer Exzellenz.«
Jagang, sichtlich schlecht gelaunt und mit seiner Geduld nahezu am Ende, verlagerte sein Gewicht im Sattel. »Nichts, aha.«
»So ist es, Euer Exzellenz, absolut nichts. Keine Spur von Truppen östlich von hier oder auf der anderen Seite der Stadt und auch nicht bis hinauf in die Berghänge. Nichts. Die Straßen, die Pfade – alles völlig verlassen. Keine Menschen, keine Spuren, kein Pferdemist, keine Wagenspuren ... nichts. Nichts deutet darauf hin, daß hier seit längerer Zeit überhaupt jemand gewesen ist.«
Der Mann fuhr fort mit einem umständlichen Bericht über die Orte, an denen sie sich, wenn auch erfolglos, umgesehen hatten, als die andere Reiterschar von Westen her angedonnert kam; ihre Pferde waren schweißbedeckt und befanden sich in einem Zustand höchster Erregung.
»Keine Menschenseele!«, rief der Mann an der Spitze, während er die Zügel verriß und damit den Kopf des Pferdes nach oben zog. Das Pferd, die Augen wirr und vorn harten Ritt noch unter Anspannung, drehte sich um seine eigene Achse und kam dann endlich vor dem Kaiser zum Stehen. »Nach Westen hin gibt es weder Truppen noch sonst eine Menschenseele, Exzellenz. Auch auf der Straße hinauf zur Burg waren keine Spuren zu erkennen.«
»Seid Ihr bis ganz hinauf zur Burg geritten, um nachzusehen?«, fragte er und bedachte den Mann mit einem finsteren Blick.
Der strenge Blick ließ den Mann schlucken. »Kurz bevor die Straße oben endet, gibt es eine steinerne Brücke, die eine gewaltige Felsschlucht überspannt. Bis dort sind wir hinaufgeritten, Exzellenz, trotzdem haben wir niemanden gesehen, auch keine Fußspuren. Das Fallgatter war heruntergelassen, und in der Burg dahinter waren keine Lebenszeichen auszumachen.«
»Das hat nicht das Geringste zu bedeuten«, meinte unweit hinter ihm eine Frauenstimme voller Spott. Es war Schwester Perdita. Wenigstens schaffte sie es, sich das überlegene Grinsen weitgehend zu verkneifen, als alle sie anstarrten.
»Das hat überhaupt nichts zu bedeuten«, wiederholte sie. »Ich sage es Euch, Exzellenz, das Ganze gefällt mir überhaupt nicht. Hier stimmt etwas nicht.«
»Und was zum Beispiel?«, fragte Jagang mit leiser, verdrießlicher Stimme.
Schwester Perdita verließ die Reihen der Kompanie aus mehreren Dutzend Schwestern des Lichts und ließ ihr Pferd ein Stück vorgehen, um ungestörter mit dem Kaiser sprechen zu können.
»Exzellenz«, meinte sie, nicht bevor sie unmittelbar bei ihm war, »kennt Ihr das Gefühl, einen Wald zu betreten und plötzlich zu bemerken, daß dort nicht der geringste Laut zu hören ist, obwohl dies eigentlich der Fall sein müßte? So, als wäre plötzlich alles verstummt?«
Jennsen hatte es bereits erlebt. Sie war erstaunt, wie präzise die Schwester das seltsam beklemmende Gefühl getroffen hatte, das sie genau in diesem Augenblick beschlich – eine Art unheilvoller Vorahnung, wenn auch ohne klar erkennbare Ursache, als ob sich ihr im Halbschlaf die feinen Nackenhaare sträubten, weil auf einen Schlag sämtliche Insekten verstummt waren.
Jagang durchbohrte Schwester Perdita mit seinem Blick. »Immer wenn ich einen Wald oder einen anderen Ort betrete, herrscht dort augenblicklich Ruhe.«
Die Schwester vermied es. ihm zu widersprechen, und versuchte es statt dessen noch einmal von vorn. »Exzellenz, wir liefern uns mit diesem Volk schon lange einen harten Kampf. Die mit der Gabe Gesegneten in unseren Reihen sind mit ihren magischen Tricks vertraut. Wir wissen, wann sie von ihrer Gabe Gebrauch machen, und wir haben gelernt zu erkennen, ob sie ihre Magie zum Errichten von Fallen benutzt haben, auch wenn die Fallen selbst nicht magisch sind. Aber dies ist anders. Hier stimmt etwas nicht.«
»Ihr habt mir noch immer nicht verraten, was«, meinte Jagang im Tonfall mühsam unterdrückter, ungeduldiger Gereiztheit, als wäre er es leid zu warten, bis sein Gegenüber endlich zur Sache kam.
Als Schwester Perdita seine Ungehaltenheit bemerkte, neigte sie leicht den Kopf. »Wenn ich es wüßte, Exzellenz, würde ich es Euch verraten. Es ist ja meine Pflicht, Euch nach bestem Wissen zu beraten. Bislang können wir keinerlei Verwendung von Magie entdecken – nicht die Geringste. Wir spüren auch keine Fallen, die jemals mit der Gabe in Berührung gekommen wären.
Aber leider vermag mich diese Erkenntnis nicht zu beruhigen. Ich möchte Euch jetzt und hiermit warnen, auch wenn ich zugeben muß, daß ich den Grund für meine Besorgnis selbst nicht kenne. Ihr braucht nur in meinen Verstand einzudringen und Euch selbst zu überzeugen, daß ich die Wahrheit spreche.«
Jennsen hatte keine Ahnung, was die Schwester damit meinte, doch nachdem er sie eine Weile unverwandt angesehen hatte, wurde Jagang sichtlich gefaßter. Er entließ sie mit einem Brummen und richtete den Blick wieder auf den Palast. »Ich denke, nach dem langen Müßiggang dieses Winters seid Ihr schlicht ein wenig überreizt, Schwester. Wie Ihr ganz richtig sagtet, seid Ihr mit ihrer Taktik und den magischen Tricks vertraut; wenn es sich also um eine reale Bedrohung handelte, wüßtet Ihr und Eure Schwestern davon und auch den Grund dafür.«
»Ich bin nicht sicher, ob das zutrifft«, hakte Schwester Perdita nach. Sie warf einen kurzen, sorgenvollen Blick hinüber zur Burg der Zauberer hoch oben auf dem Berg. »Unsere Kenntnis der Magie ist umfassend, aber die Burg der Zauberer ist Tausende von Jahren alt. Da dieser Ort somit der Alten Welt angehört, liegt er außerhalb meines Erfahrungsbereiches. Über die speziellen Arten der Magie, die an diesem Ort vermutlich aufbewahrt werden, weiß ich nahezu nichts, außer daß sie, worum immer es sich handeln mag, überaus gefährlich sein dürften. Die sichere Verwahrung gewisser Dinge entspricht schließlich exakt dem Zweck eines Bergfrieds.«