»Aus eben diesem Grund verlange ich die Eroberung der Burg«, feuerte Jagang zurück. »Wenn sie uns nicht später zum Verhängnis werden sollen, dürfen diese gefährlichen Dinge nicht länger in den Händen unserer Feinde bleiben.«
Schwester Perdita strich sich nachsichtig mit den Fingerspitzen über ihre faltige Stirn. »Die Burg ist streng gesichert. Wie, kann ich nicht sagen; diese Sicherungsvorkehrungen wurden von Zauberern eingerichtet, nicht von Hexenmeisterinnen. Durchaus möglich, daß diese Vorkehrungen ohne Bewachung zurückgelassen wurden – Wachen sind dort überflüssig. Schutzvorkehrungen wie diese können durch einfaches Betreten ausgelöst werden – ganz ähnlich wie bei nicht magischen Fallen. Diese Schutzmechanismen können reine Vorsichtsmaßnahmen, aber ebenso gut auch absolut tödlich sein. Selbst wenn das Gemäuer dort oben völlig menschenleer sein sollte, könnten diese Schutzmechanismen jeden – wirklich jeden – töten, der ihnen auch nur nahe kommt, geschweige denn versucht, die Burg einzunehmen. Diese Verteidigungsmaßnahmen sind für die Ewigkeit angelegt – sie nutzen sich niemals ab. Ihre Effektivität bleibt stets erhalten, ob sie sich nun seit einem Monat oder seit einem Millennium an ihrem Platz befinden. Der Versuch, eine so gesicherte Burg einzunehmen, könnte uns genau zu dem Verhängnis werden, das wir zu vermeiden suchen.«
Jagang hatte genau zugehört. »Das ändert nichts daran, daß wir die Schutzvorkehrungen ausschalten müssen, wenn wir die Burg einnehmen wollen.«
Schwester Perdita warf einen Blick über ihre Schulter auf die dunkle, steinerne Burg hoch oben am Hang des Berges, bevor sie antwortete. »Wie ich schon mehrfach zu erklären versuchte, Exzellenz, bedeutet das Ausmaß unserer Talente und kollektiven Macht keineswegs, daß wir imstande wären, diese Schutzmechanismen auszuschalten oder zu überwinden. Diese Dinge haben nicht unbedingt etwas miteinander zu tun. Trotz seiner gewaltigen Körperkraft ist ein Bär nicht in der Lage, das Schloß einer Geldkassette aufzubrechen. Kraft allein ist nicht notwendigerweise der Schlüssel zu diesen Dingen. Ich muß noch einmal wiederholen, Mir gefällt das alles ganz und gar nicht.«
»Damit sagt Ihr mir nichts weiter, als daß Ihr Angst habt. Von allen mit der Gabe Gesegneten sind die Schwestern außergewöhnlich gut gerüstet, deswegen seid Ihr schließlich hier.« Jagang, offenkundig mit seiner Geduld am Ende, beugte sich zu ihr hinüber. »Ich erwarte von den Schwestern, daß sie jedwede Bedrohung durch Magie abwenden, muß ich deutlicher werden?«
Schwester Perdita erbleichte. »Nein, Exzellenz.« Nach einer Verbeugung vom Sattel aus riß sie ihr Pferd herum, um sich wieder unter ihre Schwestern einzureihen.
»Schwester Perdita«, rief Jagang ihr hinterher. Er wartete, bis sie sich umgedreht hatte. »Ich sagte es bereits, die Eroberung der Burg der Zauberer ist für uns ein absolutes Muß. Wie viele von Euch dabei ihr Leben lassen, schert mich wenig, für mich zählt einzig der Erfolg.«
Während sie zu ihren Schwestern zurückkehrte, um über die Angelegenheit zu beraten, sahen Jagang und alle anderen einen einzelnen Reiter, der ihnen aus der Stadt entgegengaloppiert kam. Irgend etwas am Ausdruck im Gesicht des Mannes ließ alle vorsichtshalber zu den Waffen greifen. Angespannt schweigend wartete man, bis sein Pferd vor dem Kaiser jäh zum Stehen kam. Der Mann war schweißgebadet, seine engstehenden Augen waren vor Erregung aufgerissen, dennoch gelang es ihm, seine Stimme unter Kontrolle zu bekommen.
»Ich habe keine Menschenseele gesehen. Exzellenz, niemanden – in der ganzen Stadt nicht. Aber ich habe Pferde gerochen.«
Jennsen sah den Offizieren ihre Besorgnis angesichts dieser neuerlichen Bestätigung ihrer Zweifel an der geradezu absurden Vorstellung, die Stadt sei vollkommen menschenleer, deutlich ins Gesicht geschrieben. Mit Einbruch des Winters hatte die Imperiale Ordnung die feindlichen Streitkräfte in diese Stadt hineingetrieben und damit nicht nur die Armee, sondern auch die gesamte Einwohnerschaft in einer Falle eingeschlossen. Es überstieg ihr Vorstellungsvermögen, wie man eine Stadt von dieser Größe – noch dazu im tiefsten Winter – evakuieren konnte. Trotzdem schien keiner bereit, diese Überzeugung gegenüber dem Kaiser allzu deutlich zu vertreten, dessen Blick starr auf die menschenleere Stadt gerichtet war.
»Pferde?«, fragte Jagang stirnrunzelnd. »Ein Stall vielleicht?«
»Nein, Exzellenz. Ich konnte die Tiere weder sehen noch hören, ich konnte sie nur riechen. Das war kein typischer Stallgeruch, sondern der Geruch von Pferden. Irgendwo dort unten gibt es Pferde.«
»Dann muß der Feind noch hier sein, genau wie wir angenommen hatten«, meinte einer der Offiziere zu Jagang. »Er hält sich versteckt, ist aber noch in der Stadt.«
Jagang wartete schweigend, daß der Mann fortfuhr.
»Und noch etwas, Exzellenz«, sprudelte der Kundschafter aufgeregt hervor. »Ich konnte die Pferde trotz ausgiebiger Suche nirgends finden, also beschloß ich, umzukehren und Verstärkung zu holen, um die feigen Feinde aufzustöbern. Bei meiner Rückkehr dann habe ich in einem Fenster des Palasts jemanden gesehen.«
Jagangs Blick schnellte unvermittelt zu ihm herum. »Wie war das?«
Der Soldat zeigte auf die Stadt. »In dem weißen Palast, Exzellenz. Ich kam gerade kurz vor dem Palastgelände am Stadtrand hinter einer Mauer hervor, als ich sah, wie oben im zweiten Stock jemand von einem Fenster zurücktrat.«
Jagang riß verärgert an den Zügeln, um ein seitliches Ausbrechen seines ungeduldigen Hengstes zu verhindern. »Seid Ihr sicher?«
Der Mann nickte heftig. »Aber ja, Exzellenz. Die Fenster dort sind hoch. Bei meinem Leben, ich kam gerade hinter der Mauer hervor und hob den Kopf, als jemand mich sah und von einem der Fenster zurücktrat.«
Den Blick unverwandt auf die von Ahornbäumen gesäumte Straße gerichtet, die zum Palast hinaufführte, überdachte der Kaiser die Folgen dieser neuen Entwicklung.
»Mann oder Frau?«, fragte Sebastian.
Der Reiter zögerte kurz, um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen, und versuchte wieder zu Atem zu kommen. »Ich habe die Person nur flüchtig gesehen, aber ich glaube, es war eine Frau.«
Jagang sah den Mann durchdringend aus seinen finsteren Augen an. »War sie es?«
»Mit Gewißheit könnte ich das nicht behaupten, Exzellenz. Vielleicht war es auch nur eine Lichtspiegelung auf dem Fenster, aber ich meine, mit dem kurzen Blick erkannt zu haben, daß sie ein langes weißes Kleid anhatte.«
Die Beschreibung paßte genau auf die Mutter Konfessor. Jennsen hielt es für ziemlich weit hergeholt, daß es sich bei der Spiegelung auf der Glasscheibe, genau in dem Augenblick, da jemand vom Fenster zurücktritt, einer Spiegelung, die den Eindruck erzeugte, besagte Person trage das weiße Kleid der Mutter Konfessor, um einen Zufall gehandelt haben könnte.
Und doch ergab es für Jennsen keinen Sinn. Warum sollte die Mutter Konfessor allein im Palast zurückbleiben? Bis zum bitteren Ende Widerstand zu leisten war eine Sache; etwas ganz anderes war es, dies ganz allein zu tun. War es möglich, wie der Mann angedeutet hatte, daß der Feind sich feige versteckte?
Sebastian trommelte müßig mit einem Finger auf seinen Oberschenkel. »Ich wüßte zu gern, was sie im Schilde führen.«
Jagang zog sein Schwert blank. »Ich denke, exakt das sollten wir herausfinden.« Er sah zu Jennsen hinüber. »Haltet Euer Messer bereit, Mädchen. Dies könnte der Tag sein, für den Ihr gebetet habt.«