Schwester Perdita senkte den Blick zu Boden. »Wir haben keine Möglichkeit, das herauszufinden, Exzellenz. Es könnte etwas so Einfaches gewesen sein wie ein uraltes Kästchen mit einem Lichtnetz darin, von dem er sämtliche Sicherungsvorkehrungen entfernt und es anschließend zurückgelassen hat, damit wir zufällig darauf stoßen. Vielleicht hat es einer unserer Männer beim Aufschlagen des Lagers gefunden, sich gefragt, was das kleine, unverdächtig aussehende Kästchen wohl enthalten mag, es geöffnet, und das Tageslicht wurde schließlich zum entscheidenden Auslöser. Aber es könnte auch etwas vollkommen anderes sein, das wir uns nicht einmal im Traum hätten ausdenken oder vorstellen und noch viel weniger hätten verhindern können. Wir werden es nie erfahren. Wer immer es ausgelöst hat, ist jetzt Teil jener gewaltigen Staubwolke, die dort über dem Flußtal steht.«
»Exzellenz«, sagte Sebastian, »ich rate dringend, die Armee von hier abzuziehen und den Rückzug zu befehlen.« Er hielt inne, als ein heftiger Schmerz ihn zusammenzucken ließ. »Wenn sie imstande sind, derartige Kräfte zu ihrer Verteidigung zu entfesseln, könnte eine Eroberung der Burg unmöglich sein – trotz der mit der Gabe Gesegneten und des Schutzes, den sie uns bieten.«
»Aber wir haben keine andere Wahl!«, brüllte Jagang.
Sebastian mußte warten, bis der stechende Schmerz ein wenig nachließ. »Ein Verlust dieser Armee, Exzellenz, bedeutete für Lord Rahl einen absoluten Triumph. So einfach ist das. Aydindril lohnt das Risiko nicht, als das es sich herausgestellt hat.« Hier sprach weniger der Sebastian, den Jennsen kannte, als vielmehr der oberste Stratege der Imperialen Ordnung. »Es wäre besser, sich zurückzuziehen und bei einer anderen Gelegenheit zu kämpfen, wenn wir die Bedingungen festlegen, und nicht sie. Die Zeit arbeitet für uns, nicht für sie.«
Sprachlos vor Zorn starrte Kaiser Jagang in die Richtung seiner bedrohten Armee, während er sich Sebastians Ratschlag durch den Kopf gehen ließ. Unmöglich zu sagen, wie viele Männer soeben ihr Leben verloren hatten.
»Das ist das Werk Lord Rahls«, meinte Jagang schließlich mit leiser Stimme. »Er muß ausgeschaltet werden. Im Namen des Schöpfers, er muß unschädlich gemacht werden.«
Jennsen machte sich ein weiteres Mal bewußt, daß nur sie allein diese Tat ausführen konnte.
51
Jennsen lief im schummrigen Licht des Zeltes nervös auf und ab, ihre Schritte waren auf den tiefen Teppichen des Kaisers allerdings kaum zu hören. Neben dem vorderen Zelteingang hielt eine Schwester Wache und achtete darauf, daß niemand das Zelt betreten und den Kaiser stören oder – noch weitaus wichtiger – ihm ein Unheil zufügen konnte. Draußen patrouillierte ein beeindruckendes Kontingent aus Wachen das gesamte Gelände, darunter auch einige Schwestern.
Außer Auf- und Ablaufen konnte Jennsen im Augenblick nichts tun. Ihr Bauch hatte sich vor lauter Sorge um Sebastian zu einem harten, schmerzhaften Knoten zusammengezogen. Auf dem langen Ritt zurück ins Feldlager hatte er das Bewußtsein verloren, und nach Aussage Schwester Perditas war sogar sein Leben in Gefahr. Die Vorstellung, daß er sterben könnte, war für Jennsen völlig unerträglich.
Nach seinem starken Blutverlust und den Strapazen des langen, beschwerlichen Ritts in Begleitung der zerlumpten Überreste seiner Kavallerie war auch Kaiser Jagangs Zustand überaus ernst, trotzdem hatte er sich geweigert, seine Rückkehr aus irgendeinem Grund, und sei es dem seiner persönlichen Gesundheit, hinauszuzögern. Völlig selbstlos hatte er nichts als die Rückkehr seiner Truppe im Sinn. Beide Männer waren jetzt sicher im Schutz des kaiserlichen Zeltes untergebracht, wo sich die Schwestern des Lichts ihrer annahmen. Jennsen hatte bei Sebastian bleiben wollen, war aber von den Schwestern hinauskomplimentiert worden.
Das Lichtnetz hatte ganz in der Nähe des Lagermittelpunktes gezündet, und selbst jetzt noch, viele Stunden nach dem Zwischenfall, bot sich an dieser Stelle ein Bild heilloser Wirrnis und Zerstörung.
Viele Einheiten waren in Erwartung eines möglicherweise unmittelbar bevorstehenden Angriffs ausgeschwärmt, andere, so vermutete man, waren einfach in die umliegenden Hügel geflohen. Im unmittelbaren Zündungsgebiet des Lichtnetzes war nichts als ein tiefer Krater aus schwarz verkohlter Erde zurückgeblieben. In dem Chaos, das auf die Explosion folgte, hatte niemand genau feststellen können, wie viele Männer getötet worden waren; in Anbetracht der zahllosen Toten und Versprengten war es praktisch unmöglich gewesen, die Einheiten, viel weniger noch die einzelnen Soldaten, durchzuzählen, trotzdem bestand absolutes Einvernehmen darüber, daß es zu Verwüstungen verheerenden Ausmaßes gekommen war.
Jennsen hatte hinter vorgehaltener Hand erzählen hören, über eine halbe Million Soldaten sei von einem Augenblick zum nächsten zu Staub verwandelt worden, möglicherweise sogar die doppelte Anzahl. Letztendlich konnte die Zahl der Verluste sogar noch beträchtlich höher ausfallen; es gab eine unabsehbar hohe Anzahl von Schwerverletzten – Männer, die verbrannt oder geblendet worden waren; Männer, die schwere Schnittwunden erlitten oder denen umherfliegende Trümmer Glieder abgerissen hatten; Männer, die von schweren Karren oder Ausrüstungsgegenständen teilweise zerquetscht worden waren, die das Gehör verloren hatten oder so unempfänglich und abgestumpft gegen jede Gefühlsregung geworden waren, daß sie nur noch dumpf vor sich hin starren konnten. Mit jeder Stunde, die verstrich, starben Tausende Überlebende der eigentlichen Explosion an ihren Verletzungen.
So niederschmetternd der Schlag gewesen sein mochte – für die gewaltige Bestie der Armee der Imperialen Ordnung war er alles andere als tödlich. Das Feldlager war riesengroß, und genau wegen dieser ungeheuren Ausmaße hatte es in weiten Teilen überlebt. Dem Vernehmen des Kaisers nach war es nur eine Frage der Zeit, bis man die Verluste durch frische Truppen ersetzt hatte, und dann würde er seine Männer auf die Bevölkerung der Neuen Welt loslassen, um sich an ihr zu rächen.
Doch trotz Kaiser Jagangs fester Überzeugung, daß sich ihre Streitkräfte rasch wieder erholen würden, standen ihnen schwierige Zeiten bevor. Ein großer Teil der Nahrungsmittelvorräte war vernichtet worden, dazu gewaltige Mengen von Ausrüstungsgegenständen und Waffen; jedes einzelne Zeit im gesamten Feldlager schien aus der Verankerung gerissen worden zu sein. Die Nacht war kalt, und viele Soldaten waren den Unbilden der Witterung schutzlos ausgeliefert. Auch die Zelte des Kaisers waren umgerissen worden, zum Glück jedoch hatten Pioniere sie für den verwundeten Kaiser und Sebastian wieder aufrichten können.
Es war nicht nur brennende Sorge, die Jennsen auf und ab laufen ließ, sie hatte auch eine mächtige Wut im Bauch. Sie bezweifelte, ob je ein größeres Ungeheuer als dieser Richard Rahl gelebt hatte; ganz sicher aber hatte noch nie ein einzelner Mann so viel Leid über die Welt gebracht. Es war für sie völlig unvorstellbar, wie jemand derart von Machtgier getrieben sein konnte, daß er sich zum Anführer einer Sache aufschwang, die den Tod unzähliger Menschen in Kauf nahm. Richard Rahl, das stand für sie fest konnte unmöglich ein Kind des Schöpfers sein; gewiß war er ein Gefolgsmann des Hüters.
Die nagende Ungewißheit ließ ihr die Tränen über die Wangen strömen. Sie betete inbrünstig zu den Gütigen Seelen, Sebastian möge nicht sterben und die Schwestern mögen im Stande sein, ihn wieder gesund zu machen. Zutiefst bekümmert lehnte sie sich an einen Tisch, der ihr bei ihrem ersten Aufenthalt im Zelt nicht aufgefallen war. Man hatte das Zelt nach seinem Einsturz rasch wieder aufgebaut und den Tisch, der vermutlich aus den Privatgemächern des Kaisers stammte, offenbar nicht wieder an seinen angestammten Platz zurückgestellt; an seiner Rückseite war ein kleines aufgesetztes Bücherregal angebracht.
Auf der Suche nach einer Lektüre, die sie von ihren quälenden Sorgen ablenken mochte, während sie auf Nachricht von Sebastian wartete, ließ Jennsen den Blick über die alten Bücher schweifen. Obwohl sie keine einzige Aufschrift lesen konnte, erregte eines ganz besonders ihre Aufmerksamkeit. Sie zog das Buch heraus, hielt es in den Schein der Kerze und versuchte, den Titel zu entziffern; anschließend fuhr sie mit den Fingerspitzen über die Worte auf dem Einband. Sie ergaben für sie keinen Sinn, und doch erschienen sie ihr beinahe vertraut.