Als sie über den Kreis aus glitzerndem, weißem Sand hinwegtrat, empfing sie dahinter eine erschreckende Kälte; es war, als wäre sie mit einem Schritt mitten im tiefsten Winter gelandet. Zitternd und bibbernd, die Arme um den Körper geschlungen, begab sie sich schließlich in den inneren Kreis der Frauen.
In der Mitte befand sich eine mit demselben weißen Sand gezeichnete, im Mondschein glitzernde Huldigung. Davor blieb sie stehen, den Blick auf das Symbol gerichtet, das sie selbst so oft gezeichnet hatte, auch wenn damals nicht die Gabe ihre Hand geführt hatte.
»Setz dich hin«, kommandierte Schwester Perdita.
Jennsen fuhr erschrocken hoch. Die Frau stand unmittelbar hinter ihrem Rücken. Als sie die Hände auf Jennsens Schulter legte und drückte, ließ Jennsen sich zu Boden sinken und setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen genau in den achtzackigen Stern in der Mitte der Huldigung. Jetzt sah sie, daß jede Schwester an der Verlängerung eines von den Zacken des Sterns ausgehenden Strahls saß – bis auf den einen unmittelbar vor ihr. Dieser Platz war unbesetzt.
Nackt und zitternd hockte Jennsen im Mittelpunkt des Kreises, als die Schwestern erneut zu ihrem leisen Sprechgesang ansetzten.
Der Wald war dunkel und unheimlich. Der Wind ließ die Äste klappernd aneinanderschlagen wie die Gebeine jener Toten, die die Schwestern, wie Jennsen befürchtete, gerade herbeiriefen.
Der Sprechgesang brach unvermittelt ab. Statt sich, wie Jennsen vermutet hatte, auf den einen leeren Platz zu setzen, der im Kreis der Schwestern frei geblieben war war Schwester Perdita hinter ihr stehen geblieben und sprach mit knappen, strengen Worten in der fremden Sprache.
An bestimmten Stellen der langen, in leierndem Tonfall vorgetragenen Ansprache legte Schwester Perdita eine gewisse Betonung auf ein bestimmtes Wort – Grushdeva – und streute mit ausgestrecktem Arm ein wenig Staub auf Jennsens Kopf. Der Staub entzündete sich mit einem rauschenden, dumpfen Knall, der Jennsen jedes Mal erschrocken auffahren ließ und die Schwestern im Schein der wallenden Flammen in ein grelles Licht tauchte.
Jedesmal, wenn das Feuer daraufhin gen Himmel stieg, intonierten die Schwestern wie aus einem Mund, »Tu vash misht. Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht.«
Dies waren nicht nur Worte, die sie kannte, Jennsen merkte auch, daß die Stimme in ihrem Kopf die Worte gemeinsam mit den Schwestern intonierte. Die Stimme wiederzuhaben, hatte etwas gleichermaßen Beängstigendes wie Tröstliches, denn das beklemmende Angstgefühl nach dem Verstummen der Stimme war unerträglich gewesen.
» Tu vash misht Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht.«
Das Geräusch des Sprechgesangs hatte eine beruhigende und im weiteren Verlauf auch schläfrig machende Wirkung auf Jennsen. Sie mußte daran denken, was alles dazu geführt hatte, daß sie sich jetzt an diesem Punkt befand, an den Alptraum, aus dem ihr ganzes Leben bestanden hatte, von jenem Zeitpunkt an, als sie im Alter von sechs Jahren mit ihrer Mutter aus dem Palast des Volkes geflohen war, bis hin zu den unzähligen Malen, da Lord Rahls Soldaten ihnen ganz nahe gekommen waren und sie nur mit knapper Not entkommen konnten, bis hin zu der fürchterlichen Regennacht als die Männer Lord Rahls in ihr Haus eingedrungen waren. Jennsen spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, sobald sie an den Tod ihrer Mutter auf dem blutverschmierten Fußboden dachte. Der entsetzliche Schmerz ließ sie gequält aufschreien.
»Tu vash misht. Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht.«
Tränenüberströmt schüttelte sich Jennsen unter heftigem Schluchzen. Ihre Mutter fehlte ihr; sie hatte Angst um Sebastian. Sie fühlte sich so entsetzlich allein in der Welt. Sie hatte so viele Menschen sterben sehen, das alles sollte endlich ein Ende haben.
» Tu vash misht. Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht.«
Als sie den Blick hob, gewahrte sie etwas Dunkles auf dem Augenblicke zuvor noch unbesetzten Platz genau vor ihr. Die Augen dieses Etwas glänzten im Schein der Kerzen. Als Jennsen in diese Augen starrte, war es, als sähe sie die Stimme selbst vor sich.
»Tu vash misht. Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht«. sprach die Stimme vor ihr und in ihrem Kopf in leise knurrendem Tonfall. »Öffne dich für mich, Jennsen. Öffne dich für mich, Jennsen.«
Gefangen in dem feurigen, durchbohrenden Blick aus diesen Augen war Jennsen wie gelähmt. Es war die Stimme, nur befand sie sich diesmal nicht in ihrem Kopf. Es war die Stimme unmittelbar vor ihr.
Hinter ihr verstreute Schwester Perdita abermals ihren Staub, und als er sich diesmal entzündete, beleuchtete er die Person, die dort mit feurig glühenden Augen vor ihr hockte.
Es war ihre Mutter.
»Jennsen«, girrte ihre Mutter. »Gib dich hin.«
»Was?«, wimmerte Jennsen, zu Tode erschrocken.
»Gib dich hin.«
Jetzt brachen alle Dämme, und ihre Tränen ergossen sich in einem einzigen, unkontrollierbaren Sturzbach. »Mama! Oh. Mama!«
Jennsen machte Anstalten, sich zu erheben, machte Anstalten, auf ihre Mutter zuzugehen, doch Schwester Perdita drückte sie an den Schultern wieder hinunter auf ihren Platz.
Als die wogenden Flammen gen Himmel stiegen und erloschen, als das Licht verblaßte, verschmolz ihre Mutter mit der Dunkelheit, und vor ihr saß wieder dieses Etwas mit den glühenden Kerzenaugen.
»Grushdeva du kalt misht«, knurrte die Stimme.
»Was?«, wimmerte Jennsen.
»Rache geschieht durch mich«, übersetzte die Stimme knurrend. »Surangie, Jennsen. Gib dich auf, und dein wird die Rache sein.«
»Ja!«, schrie Jennsen in ihrer untröstlichen Qual. »Ja, ich werde mich ganz der Rache hingeben!«
Als das Etwas daraufhin grinste, war es, als täte sich ein Tor zur Unterwelt auf.
Es erhob sich, ein flirrender Schatten, und beugte sich zu ihr vor. Das Mondlicht glänzte auf seinen knotigen Muskeln, als es sich streckte und fast wie eine Katze lächelnd auf sie zukam und ihr dabei seine Reißer zeigte, bei deren Anblick einem das Herz stehen blieb.
Jennsen war mittlerweile völlig hilflos und wußte nur noch eins, Sie war mit ihrer Kraft am Ende und wollte, daß es aufhörte, denn sie ertrug es einfach nicht mehr länger. Sie wollte Richard Rah! töten; sie wollte Rache. Und sie wollte ihre Mutter wiederhaben.
Das Wesen stand genau vor ihr, ein unbestimmtes Etwas aus schimmernder Kraft und Form; es war da und doch auch nicht, teils in dieser Welt und teils in einer anderen.
In diesem Moment bemerkte Jennsen jenseits des Wesens, jenseits der Schwestern und des glitzernden weißen Sandes und der Kerzen riesige Gestalten draußen in den Schatten – vierbeinige Gestalten. Es waren Hunderte, mit Augen, die sämtlich gelb im Dunkeln leuchteten, und dampfendem Atem vor ihren knurrenden Schnauzen. Sie sahen aus, als entstammten sie einer anderen Welt, obwohl sie in diesem Moment zweifellos und voll und ganz in dieser weilten.
»Jennsen«, flüsterte die Stimme ganz dicht über ihr. »Jennsen«, girrte sie, »Jennsen.« Sie lächelte ein Lächeln, so unergründlich finster wie die Augen Kaiser Jagangs, so dunkel wie eine Neumondnacht.
»Was ...«, wimmerte sie unter Tränen. »Was sind das für Wesen dort draußen?«
»Nun, das sind die Hunde der Rache«, sprach die Stimme leise in vertraulichem Ton. »Umarme mich, dann lasse ich sie los.«
Sie riß die Augen auf. »Was?«
»Gib dich mir hin, Jennsen. Umarme mich, und ich werde die Hunde in deinem Namen loslassen.«
Jennsen vermochte nicht einmal zu blinzeln, als sie vor dem Wesen zurückwich. Es verschlug ihr fast den Atem. Ein leises Geräusch, ein schnurrendes Rasseln drang aus der Kehle des Wesens, als es sich ganz weit über sie beugte und ihr von oben herab in die Augen blickte.
Sie suchte krampfhaft nach dem einen kleinen Wort, dem ach so wichtigen kleinen Wort. Es verbarg sich irgendwo in ihren Gedanken, doch als sie jetzt in diese leuchtenden Augen hinaufstarrte, wollte es ihr einfach nicht einfallen. Ihr Verstand schien wie erstarrt. Sie brauchte dringend dieses Wort, doch es war einfach wie verschwunden.