»Grushdeva du kalt misht«. girrte die Stimme mit ihrem kehligen, hallenden Knurren. »Rache geschieht durch mich.«
»Rache«, wiederholte Jennsen benommen mit leiser Stimme.
»Öffne dich mir, öffne dich mir. Gib dich hin. Räche deine Mutter.«
Das Wesen strich ihr mit einem langen Finger über das Gesicht, und plötzlich spürte sie deutlich, wo Richard Rahl sich befand – so als fühlte sie die Bande, die anderen Menschen seinen Aufenthaltsort verriet. Irgendwo im Süden, tief unten im Süden. Jetzt konnte sie ihn finden.
»Umarme mich«, hauchte die Stimme, nur wenige Zoll vor ihrem Gesicht.
Plötzlich wurde Jennsen sich bewußt, daß sie flach auf dem Rücken lag, eine Erkenntnis, die sie gleichermaßen überraschte und bestürzte. Sie konnte sich überhaupt nicht erinnern, sich zurückgelehnt zu haben. Ihr war. als beobachtete sie eine andere, die all diese Dinge tat. Sie merkte, daß das Wesen, das die Stimme war, zwischen ihren leicht gespreizten Beinen kniete.
»Gib deinen Willen hin, Jennsen. Gib deinen Körper hin«, girrte die Stimme, »und ich werde die Hunde in deinem Namen loslassen. Ich werde dir helfen, Richard Rahl zu töten.«
Das Wort war weg, verloren. Einfach verloren, genau wie sie.
»Ich ... ich«, stammelte sie, während ihr die Tränen aus den weit aufgerissenen Augen liefen.
»Umarme mich, und dein wird die Rache sein. Dann steht es ganz in deiner Macht, Richard Rahl zu töten. Umarme mich. Gib deinen Körper hin, und mit ihm deinen Willen.«
Sie war Jennsen Rahl. sie war es, die ihr Leben bestimmte.
»Nein.«
Die Schwestern im Kreis wimmerten plötzlich vor Schmerzen. Sie schlugen sich die Hände auf die Ohren, schrieen vor Schmerzen und heulten wie die Hunde.
Die leuchtenden Wachslichtaugen musterten sie von oben herab. Das Lächeln kehrte zurück, diesmal begleitet von leise zischendem Dampf, der zwischen seinen Reißern entwich.
»Gib dich hin, Jennsen«, polterte die Stimme plötzlich in einem so gebieterischen Ton, daß Jennsen glaubte, davon erdrückt zu werden.
»Gib deinen Körper hin. Gib deinen Willen hin. Und die Rache wird dein sein. Richard Rahl wird dir ausgeliefert sein.«
»Nein«, wiederholte sie und wich zurück, als das Wesen sich noch näher vor ihr Gesicht schob. Ihre Finger krallten sich in die Erde. »Nein! Ich werde meinen Körper hingeben und meinen Willen auch, wenn das der Preis ist, wenn es das ist, was ich tun muß, um die Welt des Lebens von diesem mörderischen Bastard Richard Rahl zu erlösen, aber das tue ich erst, wenn Ihr mir zuvor das andere zugesteht.«
»Du willst einen Handel?«, zischte die Stimme. Die leuchtenden Augen färbten sich gefährlich rot.
»Das ist mein Preis. Laßt Eure Hunde los. Helft mir, Richard Rahl zu töten. Sobald ich mich gerächt habe, werde ich mich hingeben.«
Das Wesen grinste ein wahrhaft alptraumhaftes Grinsen.
Eine lange, dünne Zunge schnellte vor und schleckte sie in grauenhaft verheißungsvoller Vertraulichkeit vom Schritt hinauf bis zwischen ihre Brüste ab, eine Berührung, die sie bis auf den Grund ihrer Seele erschauern ließ.
»Abgemacht, Jennsen Rahl.«
53
Friedrich schlängelte sich zwischen den dicken Grasbüscheln am Rand des kleinen Sees hindurch und versuchte nicht daran zu denken, wie hungrig er war. Nach dem Knurren seines Magens zu urteilen, hatte er damit keinen sonderlichen Erfolg. Fisch wäre zur Abwechslung einmal etwas Feines gewesen, aber Fisch mußte zubereitet werden, und vor allem mußte er erst einmal einen fangen. Er ließ den Blick suchend an der Uferzone entlangwandern. Froschschenkel wären ebenfalls eine feine Sache. Eine Mahlzeit aus Trockenfleisch würde allerdings weniger Zeit in Anspruch nehmen. Er wünschte, er hätte einen Zwieback aus seinem Rucksack genommen, als er das letzte Mal haltgemacht hatte, um sich ein wenig auszuruhen. Dann hätte er wenigstens etwas zum Beißen gehabt.
An manchen Stellen war die Wasserlinie des Seeufers mit Gräsern überwachsen, an anderen wucherten verschwiegene Dickichte aus hohem Schilf. Kein Lüftchen regte sich, so daß der goldene Glanz des Abendhimmels sich in der vollkommen stillen Oberfläche des Sees widerspiegelte.
Friedrich hielt inne, um ganz ruhig stehen zu bleiben und sich zu strecken, während sein Blick suchend in die Schatten unter den Bäumen wanderte. Er mußte seinen müden Beinen eine kurze Pause gönnen und überlegte, ob er übernachten und sich einen Unterschlupf bauen oder wenigstens einen Zwieback aus dem Rucksack holen sollte.
Friedrich rückte die Tragegurte seines Rucksacks zurecht und versuchte einen Entschluß zu fassen – ein Lager aufschlagen oder den Weg fortsetzen. Obwohl er nach seinem anstrengenden Reisetag müde und abgespannt war hatte ihn die lange Wanderung auch gestärkt, so daß er die Härten seines neuen Lebens besser zu ertragen vermochte – jedenfalls viel besser als noch zu Beginn.
Wenn Friedrich vor sich hinschritt, unterhielt er sich in Gedanken oft mit Althea, beschrieb ihr die sehenswerten Dinge, die er sah, die Beschaffenheit des Geländes, die Vegetation, den Himmel, immer in der Hoffnung, daß sie ihn aus dem Jenseits hörte und er ihr damit eine Freude machen konnte.
Mittlerweile ging der Tag zur Neige, und er mußte eine Entscheidung treffen; wenn es zu dunkel wurde, wollte er nicht mehr unterwegs sein. Es war Neumond, nach dem Verschwinden des letzten Leuchtens der Abenddämmerung würde daher nahezu völlige Dunkelheit herrschen; und jene Finsternis, in der man nicht die Hand vor Augen sah, war die allerschlimmste, denn in diesen Momenten spürte er seine Einsamkeit am deutlichsten.
Doch selbst unter einem wolkenlosen Nachthimmel war es schwierig, allein im Schein der Sterne unbekanntes Gelände zu durchwandern; in der Dunkelheit konnte man leicht vom Weg abkommen und sich verlaufen.
Das Klügste wäre es, ein Lager aufzuschlagen. Es war warm, daher mußte ein Feuer nicht unbedingt sein, auch wenn er ein vages Bedürfnis danach verspürte. Trotzdem – ein Feuer könnte Aufmerksamkeit erregen. Woher sollte er wissen, wer sich in der Nähe befand, und ein Lagerfeuer wäre meilenweit zu sehen.
Bevor er sich endgültig entschieden hatte, vernahm er ein Geräusch. Obwohl es alles andere als laut war, bewog ihn seine unerklärliche Ursache, sich umzudrehen und den Pfad in Richtung Norden zurückzublicken, in die Richtung, aus der er gekommen war. Während er lauschte, herrschte wieder vollkommene Stille.
»Ich werde allmählich zu alt für so was«, murmelte er bei sich und machte sich kurzerhand wieder auf den Weg.
Aber auch noch ein anderer triftiger Grund bewog ihn weiterzugehen, und dieser Grund war eigentlich der Wichtigste: So kurz vor dem Ziel machte er nur äußerst ungern halt, jedenfalls nicht hier, so tief in der Alten Welt, und außerdem in dem Wissen, daß Nachtpatrouillen unterwegs sein konnten. In den vergangenen Tagen hatte er immer häufiger patrouillierende Truppen der Imperialen Ordnung gesehen.
Da! Ein Knacken! Friedrich blieb wie angewurzelt stehen und sah sich lauschend um. Himmel und See spiegelten einander violett. Drei Baumstämme ragten still und bewegungslos über den Pfad, wie Krallen, die nur darauf warteten, sich einen Wanderer zu greifen.
Wahrscheinlich wimmelte der Wald nur so von Tieren, die nach durchschlafenem Tag hervorkamen, um nachts auf Jagd zu gehen. Angestrengt lauerte er auf eine Wiederholung des Geräuschs, doch nichts rührte sich in der Stille der Dämmerung.
Friedrich wandte sich wieder zum Pfad herum und beschleunigte seine Schritte. Bestimmt war es ein kleines Tier gewesen, das in der Streu des Waldbodens nach Nahrung suchte. Die vermehrte Anstrengung beschleunigte seinen Atem. Er versuchte, seinen Mund zu benetzen, indem er seine Zunge bewegte, doch es nützte kaum etwas. Obwohl er großen Durst verspürte, mochte er nicht anhalten, um einen Schluck zu trinken.