Natürlich bildete er sich das alles nur ein. Er befand sich in einem fremden Land, am Rande eines ihm unbekannten Waldes, zudem wurde es gerade dunkel.
Friedrich drehte sich um und warf einen Blick über die Schulter, während er mit eiligen Schritten über den schlecht beleuchteten Pfad hastete. Er hatte plötzlich das unheimliche Gefühl, daß sich hinter ihm etwas befand; etwas, das ihn beobachtete. Bei der Vorstellung sträubten sich ihm die Nackenhaare.
Obwohl er sich wiederholt umschaute, konnte er nichts erkennen. Hinter ihm blieb alles ruhig. Entweder war es viel zu ruhig, oder seine Phantasie spielte ihm einen Streich.
Schweratmend und klopfenden Herzens beschleunigte Friedrich abermals seine Schritte. Wenn er sich beeilte, traf er vielleicht endlich auf sein Ziel und müßte nicht die ganze Nacht allein unter freiem Himmel im Wald verbringen.
Er warf erneut einen Blick über die Schulter.
Augen beobachteten ihn!
Er erschrak darüber so sehr, daß er über seine eigenen Füße stolperte und der Länge nach hinfiel. Mit hektischen Bewegungen rappelte er sich auf und drehte sich um, so daß er den Pfad hinter sich im Blick hatte, während er auf Händen und Füßen weiterkrabbelte.
Die lauernden Augen waren noch immer da. Es war keine Einbildung gewesen – ein leuchtendes, gelbes Augenpaar beobachtete ihn tief aus den dunklen Schatten des Waldes.
Plötzlich wurde die regungslose Stille von einem leisen Knurren unterbrochen, und er hörte, wie das Tier verstohlen aus den Schatten in das dämmrige Licht zwischen See und Wald trat. Es war riesig – vielleicht doppelt so groß wie ein Wolf, mit mächtiger Brust und bulligem Nacken.
Den Kopf dicht über dem Boden, kam es mit vorsichtigen Schritten auf ihn zu, ohne seine glühenden Augen von ihm abzuwenden. Das Tier war auf der Pirsch.
Mit einem Schrei rappelte Friedrich sich auf und nahm Reißaus, so schnell ihn seine Füße trugen. Getrieben von solcher Angst, spürte er sein Alter kaum. Ein schneller Blick über seine Schulter ergab, daß das Tier hinter ihm mit großen Sätzen den Pfad entlanggerannt kam und dabei mühelos den Abstand verringerte. Noch schlimmer aber war, daß Friedrich bei diesem einen flüchtigen Blick nach hinten weitere leuchtende Augenpaare sah. Sie waren bereit für die nächtliche Jagd. Und Friedrich war ihre Beute.
Das Tier heulte auf und prallte mit solcher Wucht gegen seinen Rücken, daß ihm die Luft aus den Lungen gepreßt wurde. Er fiel mit dem Gesicht voran zu Boden, landete mit einem Ächzen und schlitterte durch den Staub. Als er sich auf allen vieren kriechend in Sicherheit bringen wollte, stürzte sich die Bestie auf ihn. Unter wütendem Geknurr machte sie einen Satz nach vorn und schnappte zu, erwischte seinen Rucksack und riß ihn an der Seite auf.
Friedrich konnte sich lebhaft ausmalen, wie er selbst statt dessen aufgerissen wurde.
Er wußte, das war sein Ende.
54
Friedrich schrie vor Entsetzen und versuchte, sich wie von Sinnen umsichschlagend zu befreien. Das Tier schnappte unter grimmigem Wutgeheul unmittelbar über seiner Schulter mit seinen Zähnen nach dem Rucksack und versuchte ihn in Stücke zu reißen. Sein Rucksack, vollgestopft mit seinen Siebensachen, wurde jetzt zum letzten Bollwerk zwischen ihm und der reißenden Bestie, die sich darin verbissen hatte. Das Gewicht des wütenden Tieres hielt ihn auf dem Boden fest, seine klammernden Vorderläufe verhinderten, daß Friedrich sich unter ihm hervorwinden, geschweige denn aufstehen und weglaufen konnte.
Mit einer verzweifelten Anstrengung zwängte Friedrich seine Hand unter seinen Körper und versuchte an sein Messer zu kommen. Er ertastete das Heft mit den Fingern, zog es heraus und stieß mit voller Wucht zu, doch die Klinge prallte von einem fellbedeckten Schulterknochen ab, ohne großen Schaden anzurichten. Er stieß abermals zu, traf diesmal allerdings ins Leere. Unter Aufbietung seiner ganzen Körperkraft wälzte er sich auf die Seite und versuchte den Leib des Tieres aufzuschlitzen, verfehlte ihn jedoch abermals und versuchte zu entkommen, als die Bestie unter seiner Klinge wegtauchte.
Gerade als er zur Seite hin entwischen wollte, stürzten sich weitere Tiere in das Kampfgetümmel. Unter wütendem Gebrüll haute Friedrich mit dem Messer um sich und versuchte gleichzeitig, sein Gesicht mit seinem anderen Arm zu schützen. Es gelang ihm, bis auf Hände und Knie hochzukommen, doch eine dieser Bestien warf ihn erneut der Länge nach zu Boden.
Und dann sah Friedrich das Buch aus der Innentasche seines Rucksacks fallen. Die Bestie, die es schließlich gierig mit ihren Reißern vom Boden aufnahm, schüttelte unter wütendem Geknurr den Kopf, wie ein Hund, der einen Hasen gefangen hatte.
Gerade wollte sich die nächste der heulenden Bestien mit auf ihn stürzen, als ihr Kopf abrupt fortgeschleudert wurde; heißes Blut klatschte Friedrich über Gesicht und Hals. Es geschah vollkommen unerwartet und war zutiefst verstörend.
»Ins Wasser«, brüllte ihm eine Männerstimme zu. »Werft Euch ins Wasser!«
Friedrich konnte sich gerade noch zur Seite wälzen und herumdrehen, um der nach ihm schnappenden, fauchenden Bestie auszuweichen. Er hatte ganz bestimmt nicht die Absicht, sich ins Wasser zu werfen; schließlich verspürte er nicht die geringste Lust, von diesen grausamen Bestien ausgerechnet im Wasser angefallen zu werden. Das war einer der Lieblingstricks der Bestien aus dem Sumpf – sie scheuchten einen ins Wasser, und dann war man erledigt.
Plötzlich schien sich die Welt in ein Tollhaus zu verwandeln, Eine stählerne Klinge flog an seinem Gesicht vorbei, über seinen Kopf hinweg und sirrte durch die Luft, zerteilte mit jedem wuchtigen Hieb eine der Bestien.
Der Mann trat mit einem Bein über Friedrich hinweg und stellte sich breitbeinig über ihn. Das blitzschnelle Hauen und Stechen seines Schwertes erfolgte mit einer fließenden Eleganz, die Friedrich außerordentlich faszinierte.
Dann sah Friedrich noch mehr dieser Bestien aus dem Wald hervorbrechen. Mit beängstigendem Schwung und Furcht einflößender Entschlossenheit attackierten sie den über ihm stehenden Mann. Ein Stück weiter erblickte Friedrich einen weiteren Schwertkämpfer, der sich, mit seinem Schwert um sich dreschend, dem Ansturm entgegenwarf. Hinter ihm glaubte er noch einen Dritten zu erkennen, doch in Anbetracht des Durcheinanders rings um ihn her war er nicht ganz sicher, wie viele Retter es waren; das schrille Grunzen, das wütende Geheul, alles in seiner unmittelbaren Nahe, war ohrenbetäubend. Als eine der Bestien von der Seite her gegen ihn geschleudert wurde, stach Friedrich mit seinem Messer auf sie ein, nur um unmittelbar darauf festzustellen, daß sie längst keinen Kopf mehr hatte.
Als der zweite Kämpfer herbeigerannt kam, um sich in das Kampfgetümmel zu stürzen, trat der rittlings über Friedrich stehende Mann einen Schritt zur Seite, langte mit einer Hand nach unten, packte ihn am Hemd, riß ihn auf die Beine und schleuderte ihn ächzend in den See. Friedrich blieb keine Zeit mehr zu begreifen, wie ihm geschah, und nur ein kurzer Augenblick, um Luft in seine Lungen zu saugen, bevor er auf die Wasseroberfläche klatschte, dann versank er bereits in den dunklen Fluten und wußte nicht mehr, wo oben oder unten war.
Als er schließlich nach Luft japsend wieder an die Oberfläche kam und mit den Armen rudernd das Ufer zu erreichen versuchte, fand er mit seinen Füßen endlich auch den schlammigen Grund, so daß er den Kopf gerade eben über Wasser halten konnte. Zu seiner Überraschung folgte ihm keine der Bestien ins Wasser; mehrere kamen bis ans Ufer gelaufen, wo sie jedoch aus Abscheu vor dem feuchten Naß jählings stehen blieben.
Die Bestien bestürmten sogleich wieder unvermindert die drei Kämpfer von allen Seiten, während das wüste Gemetzel mit beängstigender Heftigkeit weitertobte. So flink die Tiere attackierten, so entschlossen wurden sie ins Jenseits befördert, wo sie hingehörten.
Es hatte etwas unvermittelt Endgültiges, als die dunkle Gestalt das Schwert nach oben riß und einer Bestie den Kopf abschlug, die sich soeben mit einem gewaltigen Satz auf seinen Begleiter stürzen wollte. Endlich senkte sich wieder Stille über die Nacht, gestört nur von dem schweren Atem der drei Menschen auf dem Pfad.