Richard hörte ihr erst widerspruchslos zu, dann antwortete er mit ruhiger überlegter Stimme, »Lege keinen Mantel der Schuld um meine Schultern, weil andere böse sind.«
Jennsen erschrak, als ihr bewußt wurde, daß ihre Mutter in der Nacht vor ihrem Tod fast genau dasselbe gesagt hatte. »Lege nie einen Mantel der Schuld um deine Schultern, nur weil andere böse sind.«
Seine Kiefermuskeln spannten sich, als er die Zähne aufeinanderbiß. »Was habt ihr mit Kahlan gemacht?«
»Sie ist jetzt meine Königin!«, ertönte eine hallende Stimme zwischen den Säulen.
Jennsen glaubte die Stimme wiederzuerkennen. Als sie sich umschaute, war Schwester Perdita nirgendwo zu sehen.
Blitzschnell war Richard wie ein Schatten an ihr vorbeigehuscht und hielt auf die Stelle zu, woher die Stimme gekommen war; dann war auch er plötzlich verschwunden. Sie hatte ihre Chance vertan, ihn zur Strecke zu bringen.
»Jenn!«, rief Sebastian und zerrte sie am Arm. »Was ist bloß los mit dir! Komm schon! Du kannst ihn immer noch erwischen!«
Sie wußte nicht, was los war; irgend etwas war halt eindeutig verkehrt. Sie preßte ihre Hände gegen den Kopf und versuchte, das Gemurmel der Stimme abzustellen. Es wollte ihr nicht mehr gelingen; sie hatte sich auf einen Handel eingelassen, und jetzt marterte die Stimme ihren Verstand mit nie gekannten Schmerzen und verlangte gnadenlos, daß sie ihren Teil erfüllte.
Als Jennsen Gelächter aus dem Wald der steinernen Säulen schallen hörte, waren Hitze und Erschöpfung vergessen, und sie rannte augenblicklich los. Längst wußte sie nicht mehr, wo sie sich befand, welcher Weg wohin führte. Sie liefen durch felsige Hohlwege, die in wieder andere mündeten, unter Felsenbögen hindurch, vorbei an Säulen, durch Licht und Schatten. Es war, als ob man durch eine verwirrende Kombination aus Wäldern und Korridoren rannte, nur daß die Wände hier aus blankem Fels und unverputzt waren und die Bäume aus Stein.
Als sie um eine mächtige Säule bogen, gelangten sie auf eine freie Fläche aus welligem, glattem, völlig unregelmäßig geformtem Fels; dort stand, inmitten anderer wächterähnlicher Steintürme, eine hohe, mächtige, von kleineren Exemplaren umringte Steinsäule, deren Umfang dem sehr alter Eichen entsprach.
An eine dieser Säulen war eine Frau gebunden.
Jennsen hatte nicht den geringsten Zweifel, daß dies Richards Gemahlin Kahlan war, die Mutter Konfessor.
Das hallende Gelächter kam von weit her aus einer ganz anderen Richtung; neckend versuchte es, Lord Rahl vom Ziel seiner Suche fortzulocken.
Die Mutter Konfessor glich keineswegs dem Ungetüm in Menschengestalt, das Jennsen sich stets vorgestellt hatte. Sie schien in schlechter Verfassung zu sein und hing kraftlos in den Stricken, mit denen man sie an die Säule gebunden hatte. Sie war nicht richtig gefesselt, sondern nur mit einem Strick um ihre Taille festgebunden worden.
Offenbar hatte sie das Bewußtsein verloren; ein Teil ihres dichten Haars baumelte von ihrem auf die Brust gesunkenen Kopf herab, ihre Arme hingen schlaff neben ihrem Körper. Sie trug schlichte Reisekleidung, die jedoch ebenso wenig wie der halb ihr Gesicht verdeckende Haarschleier verhüllen konnte, welch schöne Frau sie war. Sie schien nur wenige Jahre älter zu sein als Jennsen. und es sah nicht so aus, als würde sie noch sehr viel älter werden.
Wie aus dem Nichts erschien Schwester Perdita neben ihr, riß den Kopf der Mutter Konfessor an den Haaren hoch, betrachtete sie kurz, und ließ ihn wieder fallen.
Jennsen brauchte die Stimme in ihrem Kopf nicht, um zu begreifen, daß dies der Köder war, den man ausgelegt hatte, um Richard Rahl in den Tod zu locken. Die Stimme hatte ihre Schuldigkeit getan.
Entschlossen packte Jennsen ihr Messer fest mit der Hand und lief hinüber zu der Schwester. Der bewußtlosen Frau drehte sie den Rücken zu, um keinen Gedanken an sie verschwenden und sie nicht ansehen zu müssen, und konzentrierte sich statt dessen ganz auf ihre bevorstehende Aufgabe.
Plötzlich trat der Mann, der gelacht hatte, hinter einer nahen Säule hervor, zweifellos, um seinen Teil beim Anlocken des Opfers beizutragen. Jennsen erkannte das schauderhafte Grinsen, Es war derselbe Mann, den sie in der Nacht gesehen hatte, als die Hexenmeisterin Lathea ermordet worden war, der Mann, vor dem Betty sich so gefürchtet hatte und den Jennsen aus ihren Alpträumen zu kennen glaubte.
»Wie ich sehe, habt Ihr meine Königin gefunden«, meinte der Alptraum in Menschengestalt.
»Was?«, fragte Sebastian verdutzt.
»Meine Königin«, wiederholte der Mann, noch immer mit demselben schauderhaften Grinsen im Gesicht. »Ich bin König Oba Rahl, und sie wird meine Königin sein.«
In diesem Moment bemerkte Jennsen, daß in seinen Augen eine geringfügige Ähnlichkeit mit Nathan Rahl, mit Richard Rahl und auch mit ihr selbst bestand. Bei ihm war diese Ähnlichkeit wohl nicht so stark ausgeprägt wie bei ihr, trotzdem hatte sie genug gesehen, um zu wissen, daß er die Wahrheit sagte – auch er war ein Sohn Darken Rahls.
»Da kommt er«, sagte er, drehte sich um und stellte ihn mit einer Handbewegung vor, »mein Bruder, der derzeitige Lord Rahl.«
Richard trat aus den Schatten hervor.
»Du brauchst dich nicht vor ihm zu fürchten, Jenn«, flüsterte Sebastian ihr ins Ohr. »Er kann dir nichts tun. Jetzt kannst du ihn dir vornehmen.«
Ihre Gelegenheit war gekommen; noch einmal würde sie sie nicht vertun.
Und dann sah sie hinter dem dichten Wald aus steinernen Säulen mehrfach kurz den näher kommenden Wagen auftauchen. Sie glaubte die Pferde wiederzuerkennen – zwei Grauschimmel mit schwarzer Mähne und ebensolchem Schweif. Es waren die größten Pferde, die sie je gesehen hatte. Aus den Augenwinkeln konnte sie erkennen, daß der Fahrer ein blonder Hüne war.
Als Jennsen sich umwandte und ungläubig auf den Wagen starrte, vernahm sie Bettys vertrautes Meckern. Die Ziege hatte ihre Vorderhufe neben dem Fahrer auf den Sitz gestellt, woraufhin der große, blonde Mann sie kurz kraulte. Er sah aus wie Tom.
»Jennsen«, rief Richard, »gib den Weg zu Kahlan frei.«
»Tu es nicht, Schwester!«, schrie Oba, brüllend vor Lachen.
Das Messer in der Hand, näherte sich Jennsen rückwärts gehend der bewußtlosen Frau, die hinter ihr an der aufragenden Felsensäule hing. Richard würde versuchen, sie zu überwältigen, wenn er zu Kahlan wollte, und dann würde Jennsen ihn erwischen.
»Jennsen«, fragte Richard, »wieso hältst du es mit einer Schwester der Finsternis?«
Verwirrt sah sie kurz zu Schwester Perdita hinüber. »Mit einer Schwester des Lichts«, verbesserte sie.
Richard schüttelte langsam den Kopf, während sein Blick zu der hinter ihr stehenden Schwester Perdita schweifte. »Nein, sie ist eine Schwester der Finsternis. Jagang hat auch Schwestern des Lichts in seiner Gewalt, aber die anderen ebenfalls. Sie sind alle Sklavinnen des Traumwandlers, deswegen tragen sie auch den Ring durch die Unterlippe.«
Den Namen – Traumwandler – hatte Jennsen schon einmal gehört; sie versuchte sich verzweifelt zu erinnern, wo. Sie erinnerte sich auch an die Beschwörungen der Schwestern in jener Nacht im Wald. Dies alles schoß ihr in einem wüsten Durcheinander durch den Kopf. Da war es auch wenig hilfreich, daß die Stimme zugegen war und sie unablässig bedrängte. Ihr ganzes Innenleben schrie geradezu danach, diesen Mann zu töten, und doch hielt etwas sie zurück. Sie wußte nur, daß es nicht seine Magie sein konnte.
»Ihr werdet Jennsen überwältigen müssen, wenn Ihr Kahlan retten wollt«, sagte Schwester Perdita in ihrer kühlen, vor Verachtung triefenden Stimme. »Allmählich gehen Euch Zeit und Alternativen aus, Lord Rahl. Ihr tätet gut daran, Eure Gemahlin zu retten, bevor auch ihre Zeit abgelaufen ist.«
Seitlich von sich erblickte Jennsen, noch ein gutes Stück entfernt, ihre braune Ziege, die, Tom um Längen hinter sich zurücklassend, durch den Wald aus steinernen Säulen gesprungen kam.