»Betty?«, rief Jennsen leise mit tränenerstickter Stimme, während sie sich den schwarzen Schleier vom Kopf wickelte, damit die Ziege sie erkannte.
Die Ziege reagierte auf die Nennung ihres Namens mit einem Meckern und wedelte im Laufen fröhlich mit dem Schwanz. Dahinter, ungefähr auf Toms Höhe, folgte noch etwas anderes, Kleineres. Bevor die Ziege sie erreichte, begegnete sie überraschend Oba. Sie war gerade hinter einer Säule hervorgekommen, als sie ihn erblickte, und wich unter kläglichem Gemecker zur Seite hin aus. Jennsen kannte Bettys Schrei nur zu gut, wenn sie es mit der Angst bekam und sich bedrängt fühlte, wenn sie Hilfe brauchte und getröstet werden wollte.
Der Himmel entlud sich mit Donner und Blitzen, was das Tier zusätzlich verängstigte.
»Betty?«, wiederholte Jennsen, die kaum ihren Augen zu trauen wagte und sich bereits fragte, ob es vielleicht ein Trugbild sein könnte, eine grausame Sinnestäuschung. Doch dazu wäre Lord Rahls Magie wohl doch nicht fähig gewesen.
Als sie ihre Stimme hörte, sprang die Ziege, ihre lebenslange, geliebte Freundin, auf Jennsen zu. Kaum mehr ein Dutzend Sprünge entfernt, sah die Ziege hoch zu Jennsen und blieb jählings stehen. Das Schwanzwedeln setzte abrupt aus; Betty meckerte unglücklich. Das Meckern schlug um in Entsetzen angesichts des Anblicks, der sich ihr jetzt bot.
»Betty«, rief Jennsen, »alles in Ordnung. Komm doch – ich bin es.«
Die Reaktion der Ziege war jedoch die Gleiche wie eben noch bei Oba, die Gleiche wie in jener Nacht, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte; ängstlich wich sie vor Jennsen zurück, machte kehrt und rannte los.
Geradewegs auf Richard zu.
Er ging in die Hocke, als das sichtlich gepeinigte Tier auf der Suche nach Trost auf ihn zugesprungen kam – und ihn schließlich auch unter seiner schützenden Hand fand.
In diesem Augenblick hörte Jennsen zu ihrer völligen Verblüffung weitere Meckerlaute. Ein kleines, weißes Zwillingsziegenpaar erschien munter springend inmitten der Menschen, inmitten dieser angespannten Situation auf Leben und Tod. Sie scheuten, als sie den Mann erblickten, drehten sich um und wichen, als sie Jennsen sahen, auch vor ihr zurück.
Betty antwortete auf ihre Rufe; blitzschnell machten auch sie kehrt und flohen in ihre Obhut. In Gegenwart ihrer Mutter fühlten sie sich geborgen und drängten sich um Richard, ganz versessen auf die beruhigenden Streicheleinheiten, die ihre Mutter soeben erhielt.
Tom war ein gutes Stück weiter hinten in der Nähe einer Säule stehen geblieben und beobachtete das Geschehen von weitem. Offensichtlich hatte er nicht die Absicht, sich einzumischen.
Jennsen war jenseits allen Zweifels überzeugt, daß die ganze Welt sich in ein Tollhaus verwandelt hatte.
60
»Was tust du da, Betty?«, rief Jennsen verzweifelt, unfähig, zu begreifen, was sie mit ihren eigenen Augen sah.
»Das ist Magie«, raunte ihr Schwester Perdita als Antwort auf ihre Frage zu. »Das ist sein Werk.«
War es möglich, daß Richard Rahl sogar ihre Ziege verhext und sie gegen sie aufgehetzt hatte?
Richard machte einen Schritt auf sie zu. Betty und ihre Zwillinge tollten zwischen seinen Beinen umher, ohne sich auch nur im Mindesten einen Begriff von der Auseinandersetzung auf Leben und Tod zu machen, die sich vor ihren Augen abspielte.
»Gebrauche deinen Verstand, Jennsen«, sagte Richard. »Laß dir nichts einreden. Du mußt mir jetzt helfen. Gib den Weg zu Kahlan frei.«
»Töte ihn!«, rief Sebastian ihr entschlossen voller Bosheit zu. »Tu es, Jenn! Seine Magie kann dir nichts anhaben. Tu es!«
Jennsen hob ihr Messer, während Richard sie ganz ruhig musterte. Sie merkte, daß sie langsam, Schritt für Schritt, auf ihn zuging. Wenn sie ihn tötete, würde mit ihm auch seine Magie sterben, und Betty würde sie wiedererkennen.
Jennsen blieb wie angewurzelt stehen. Irgend etwas stimmte nicht. Sie drehte sich zu Sebastian um.
»Woher weißt du das? Woher? Ich habe mit dir nie darüber gesprochen, daß Magie mir nichts anhaben kann.«
»Dir auch nicht?«, rief Oba. Er war näher gekommen. »Dann sind wir beide unbesiegbar! Wir könnten gemeinsam über D’Hara herrschen – aber ich wäre natürlich König, König Oba Rahl. Doch ich will nicht habgierig sein; du könntest vielleicht Prinzessin werden. Ja, ich könnte dich zur Prinzessin machen, vorausgesetzt, du taugst etwas.«
Jennsens Blick ging zurück zu Sebastians überraschtem Gesicht. »Woher weißt du davon?«
»Jenn, ich ... ich dachte nur...«, stammelte er und suchte verzweifelt nach einer Antwort.
»Richard ...« Das war Kahlan; noch immer benommen, kam sie allmählich wieder zu sich. »Wo sind wir, Richard?« Ein Schmerz ließ sie zusammenzucken, und sie schrie plötzlich auf, obwohl niemand sie angefaßt hatte.
Als Richard einen Schritt auf sie zuging, stellte sich Jennsen abermals vor sie und drohte mit ihrem Messer.
»Wenn Ihr sie wollt, müßt Ihr erst Jennsen überwältigen«, rief Schwester Perdita.
Richard musterte sie lange, ohne jede Regung. »Niemals.«
»Ihr habt keine andere Wahl!«, knurrte sie. »Ihr müßt Jennsen töten, denn sonst wird Kahlan sterben!«
»Habt Ihr den Verstand verloren?«, schrie Sebastian die Schwester an.
»Reißt Euch zusammen. Sebastian«, fiel sie ihm barsch ins Wort. »Nur durch Opfer erlangt man sein Seelenheil – das Leben des Einzelnen ist bedeutungslos. Was mit ihr geschieht, zählt nicht – das Einzige, was zählt, ist ihre Selbstaufgabe.«
Sebastian starrte sie an, unfähig, etwas zu erwidern, unfähig, ein Argument für Jennsens Überleben vorzubringen.
»Ihr werdet Jennsen töten müssen!«, wiederholte Schwester Perdita. »Oder ich werde Kahlan töten!«
»Richard ...«, stöhnte Kahlan.
»Kahlan«, sprach Richard beruhigend auf sie ein, »bleib ganz ruhig.«
»Das ist Eure letzte Gelegenheit!«, schrie Schwester Perdita. »Eure letzte Gelegenheit, das kostbare Leben der Mutter Konfessor zu retten, bevor der Hüter sich ihrer annimmt! Halte ihn zurück, Jennsen, während ich seine Gemahlin töte!«
Jennsen war völlig verdutzt, daß die Schwester ihn auf einmal aufforderte, sie zu töten; sie wollte doch den Tod des Lord Rahl. Sie alle wollten Lord Rahls Tod.
Jennsen wußte nur, daß sie allem ein Ende setzen mußte. Seine Magie konnte ihr nichts anhaben; ihr war vollkommen unbegreiflich, woher Sebastian das wußte, trotzdem mußte sie der Geschichte ein Ende machen, jetzt, solange sie noch die Gelegenheit dazu hatte. Aber welche Beweggründe die Schwester für ihr Verhalten hatte, war ihr völlig schleierhaft.
Es sei denn, sie wollte Richard provozieren, seine Magie einzusetzen, ihr seine magischen Kräfte entgegenzuschleudern und ihr dadurch die Möglichkeit zu verschaffen, die sie letzten Endes brauchte.
Das mußte es sein, Jennsen wagte nicht, noch länger zu warten.
Mit einem wütenden Aufschrei, in dem sich ein ganzes Leben voller Haß entlud, erfüllt von der quälenden Trauer über die Ermordung ihrer Mutter, von der kolossalen Wut über die Stimme in ihrem Kopf, stürzte sich Jennsen auf Richard.
Sie wußte, daß er ihr seine Magie entgegenschleudern würde, um sich selbst zu retten, daß er seine Magie ihr gegenüber entfesseln würde, wie zuvor bei den tausend Soldaten – und er schockiert wäre, wenn es nicht funktionierte und sie seinen tödlichen Zauber im letzten Augenblick durchbrach, um ihm ihr Messer in sein schändliches Herz zu stoßen. Erst viel zu spät würde er merken, daß sie unbesiegbar war.
Ihre ganze Wut herausschreiend, warf Jennsen sich auf ihn.
Sie erwartete eine gewaltige Explosion, erwartete durch Blitze, Donner, Rauch zu fliegen, doch nichts dergleichen geschah. Er packte ihr Handgelenk mit seiner Hand – einfach so. Er benutzte keine Magie, sprach keinen Bann, beschwor keine Zauberkräfte herauf.
Gegen Muskelkraft war Jennsen nicht gefeit, und davon besaß er reichlich.
»So beruhige dich doch«, meinte Richard.
Sie wehrte sich nach Leibeskräften; während sie sich austobte und mit ihrer freien Hand auf seine Brust eindrosch, hatte er ihre Messerhand sicher im Griff. Er hätte sie mit bloßen Händen in Stücke brechen können, ließ sie statt dessen aber schreien und auf ihn einprügeln, bis sie sich schließlich losriß und, von allen anderen umringt, mit erhobenem Messer keuchend dastand, während ihr Tränen der Wut und des Hasses über die Wangen liefen.