»Töte sie, oder Kahlan stirbt!«, kreischte Schwester Perdita erneut.
Sebastian stieß die Schwester zurück. »Habt Ihr völlig den Verstand verloren? Sie kann es tun! Er ist nicht mal bewaffnet!«
Richard entnahm einer der Taschen an seinem Gürtel ein kleines Buch und hielt es in die Höhe.
»Doch, das bin ich durchaus!«
»Was soll das heißen?«, fragte Jennsen.
Sein Raubvogelblick fiel auf sie. »Dies ist ein sehr alter Text mit dem Titel Die Säulen der Schöpfung. Er wurde von einigen unserer Vorfahren verfaßt, Jennsen – den Ersten, die das Amt des Lord Rahl bekleideten, den Ersten, die schließlich in vollem Umfang begriffen, was der Urvater ihres Geschlechts, Alric Rahl, unter anderem Schöpfer der Bande, geschaffen hatte. Eine sehr interessante Lektüre.«
»Wahrscheinlich steht dort, daß Ihr mich und meinesgleichen in Eurer Funktion als Lord Rahl töten sollt«, erwiderte Jennsen.
Richard lächelte. »Ganz recht, genau das steht dort.«
»Was?« Sie konnte kaum glauben, daß er es auch noch offen zugab. »Steht das wirklich dort?«
Er nickte. »In diesem Buch wird erklärt, warum alle echten nicht mit der Gabe gesegneten Nachkommen des Lord Rahl – jenes Lord Rahl, der die Gabe der Bande an sein Volk weitergibt – getötet werden müssen.«
»Wußte ich es doch!«, rief Jennsen. »Ihr habt versucht, mich anzulügen. Aber es stimmt doch!«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich den Rat befolgen werde. Ich sagte nur in dem Buch steht, daß deinesgleichen getötet werden sollten.«
»Steht dort auch, wieso?«, fragte Jennsen.
»Das ist doch vollkommen egal, Jennsen«, raunte Sebastian ihr zu. »Hör nicht auf ihn.«
Richard zeigte mit dem Finger auf Sebastian. »Er kennt den Grund. Deswegen wußte er auch, warum dir meine Magie nichts anhaben kann. Er weiß es, weil er weiß, was in dem Buch steht.«
Jennsen fuhr mit weit aufgerissenen Augen zu Sebastian herum, als ihr plötzlich ein Licht aufging. »Kaiser Jagang besitzt dieses Buch ebenfalls.«
»Jetzt redest du Unsinn, Jenn.«
»Ich habe es selbst gesehen, Sebastian. Die Säulen der Schöpfung, und zwar in seinem Zelt. Es ist ein sehr altes Buch, geschrieben in der Sprache seiner alten Heimat. Eines seiner Lieblingsbücher, er wußte ganz genau, was darin steht. Du bist einer seiner meistgeachteten Strategen; er wird es dir gewiß erzählt haben. Du wußtest die ganze Zeit über, was in dem Buch steht.«
»Jenn ... ich ...«
»Du warst das«, sagte sie tonlos.
»Wie kannst du mir nur so mißtrauen? Ich liebe dich doch!«
Dann, inmitten dieses fürchterlichen Durcheinanders aus Stimmen, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der überwältigende Schmerz brach mit ungeheurer Wucht über sie herein, und schlagartig wurde ihr mit erschreckender Deutlichkeit das wahre Ausmaß des Verrats bewußt.
»Bei den Gütigen Seelen, du warst es, die ganze Zeit schon.«
Sebastian, dessen Gesicht beinahe so weiß wurde wie seine Haarstoppeln, wurde auf einmal vollkommen ruhig. »Das ändert nicht das Geringste. Jennsen.«
»Du warst es«, sagte sie leise, mit weit aufgerissenen Augen. »Du hattest eine einzelne Bergfieberrose eingenommen ...«
»Was! So etwas besitze ich nicht mal!«
»Ich habe sie doch in der Blechdose in deinem Rucksack gesehen. Oben drauf lag eine Rolle Angelschnur, damit man sie nicht sofort sieht.«
»Ach, die. Die ... die habe ich mir von einem Heiler geben lassen – von dem, den wir besucht haben.«
»Du lügst! Du hattest sie schon die ganze Zeit. Du hattest eine eingenommen, damit du Fieber bekommst.«
»Du fängst an, dich wie eine Verrückte aufzuspielen, Jenn.«
Jennsen deutete mit dem Messer zitternd auf ihn. »Du warst es, die ganze Zeit schon. Damals, gleich am ersten Abend, hast du zu mir gesagt, ›Da, wo ich herkomme, ist es Brauch. Dinge aus dem engsten Umfeld unserer Feinde oder auch von ihnen selbst als Waffe gegen sie zu benutzen.‹ Du wolltest, daß ich das Messer behalte, und zwar weil ich aus dem engsten Umfeld deines Feindes stamme. Du hattest von Anfang an die Absicht, mich zu benutzen. Wie hast du es diesem Soldaten untergeschmuggelt?«
»Jenn ...«
»Du behauptest, du liebst mich; dann beweise es! Und lüg mich nicht an! Sag mir die Wahrheit!«
Sebastian starrte sie einen Moment lang unverwandt an, ehe er schließlich erhobenen Hauptes antwortete. »Ich wollte nur dein Vertrauen gewinnen. Ich dachte, wenn ich Fieber hätte, würdest du mich vielleicht mit zu dir nach Hause nehmen.«
»Und der tote Soldat, den ich gefunden habe?«
»Das war einer meiner Leute. Wir hatten den Mann, der das Messer bei sich trug, zuvor gefangengenommen. Ich gab einem meiner Männer das Messer und ließ ihn eine d’Haranische Uniform anziehen. Als wir dich dann unten vorbeigehen sahen, habe ich ihn von der Felsklippe gestoßen.«
»Du hast einen deiner eigenen Männer getötet?«
»Manchmal ist es notwendig, für die größere Sache ein Opfer zu bringen. Nur durch Opfer gelangt man zum Seelenheil«, fügte er trotzig hinzu.
»Woher wußtest du überhaupt, wo ich wohne?«
»Kaiser Jagang ist ein Traumwandler. Durch das Buch hatte er schon vor Jahren erfahren, daß es Menschen wie dich und deinesgleichen gibt. Nach und nach fügte er die vorhandenen Hinweise zusammen, bis er dich aufspüren konnte.«
»Und der Zettel, den ich gefunden habe?«
»Den habe ich ihm untergeschoben. Dank seiner Talente fand Kaiser Jagang heraus, daß du diesen Namen einmal benutzt hattest.«
»Die Bande verhindern, daß der Traumwandler in den Verstand eines Menschen eindringen kann«, sagte Richard. »Er muß sehr lange nach den Personen gesucht haben, die Lord Rahl nicht über die Bande verbunden sind.«
Sebastian nickte voller Genugtuung. »Genau so war es. Und wir hatten damit ja auch Erfolg.«
Jennsen, die es vor blinder Wut, vor Schmerz über diesen ungeheuerlichen Verrat innerlich zerriß, mußte schlucken. »Und die anderen? Meine ... Mutter? War sie auch eines deiner unvermeidlichen Opfer?«
Sebastian benetzte sich die Lippen. »Du begreifst das nicht, Jenn. Da wußte ich wirklich noch nicht...«
»Es waren deine eigenen Männer, deswegen war es für dich so einfach, sie zu töten. Sie haben nicht damit gerechnet, daß du sie angreifen würdest – sie dachten, du wärst dort, um an ihrer Seite zu kämpfen. Deswegen warst du auch so verwirrt, als ich dir von den Quadronen erzählte, und wie viele Männer vermutlich noch dazugehörten. In Wirklichkeit waren sie gar keine Quadronen; du mußtest unterwegs einige unschuldige Menschen töten, um mich glauben zu machen, sie seien die restlichen Angehörigen eines Quadrons. Die vielen Male, die du nachts das Haus verlassen hast, um zu kundschaften, und du zurückgekommen bist und erzählt hast, sie seien uns unmittelbar auf den Fersen, und wir noch in der Nacht weitergeflohen sind – all das hast du dir nur ausgedacht.«
»Im Dienste einer guten Sache«, erwiderte Sebastian ruhig.
Jennsen unterdrückte ihre Tränen, ihren Zorn. »Im Dienste einer guten Sache! Du hast meine Mutter umgebracht! Gütige Seelen ... sich vorzustellen, daß ... oh, bei den Gütigen Seelen, ich habe mit dem Mörder meiner Mutter... Du dreckiger...«
»Reiß dich zusammen, Jenn. Es war absolut notwendig.« Er deutete auf Richard. »Dort steht der Grund für dies alles! Und jetzt haben wir ihn! All dies war absolut notwendig! Seelenheil erlangt man nur durch selbstlose Opfer. Dein Opfer – das Opfer deiner Mutter – führte dazu, daß wir Richard Rahl gefangen nehmen konnten, den Mann, der dich dein Leben lang verfolgt hat.«
Tränen des Zorns liefen ihr über die Wangen. »Ich kann nicht glauben, wie du mir das alles antun und gleichzeitig behaupten konntest, du würdest mich lieben.«