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Jennsen zitterten die Knie. »Die Stimme ist fort«, sagte sie entgeistert. »Sie ist nicht mehr da.«

»Der Hüter hat, ganz ohne es zu wollen, seine Absicht offenbart«, meinte Richard. »Dafür, daß die Herzhunde los waren, konnte es nur eine Erklärung geben, Der Schleier – der Verbindungsweg zwischen den Welten – muß einen Riß gehabt haben.«

»Das verstehe ich nicht.«

Richard gestikulierte mit dem Buch, ehe er es in eine der Taschen an seinem Gürtel zurückschob. »Ich bin zwar noch nicht dazu gekommen, es ganz durchzuarbeiten, habe aber genug gelesen, um mich ein wenig kundig zu machen. Du bist ein nicht mit der Gabe gesegneter Nachkomme eines Lord Rahl und damit ein Gegengewicht zu den Rahls, die mit der Gabe gesegnet sind – der Magie. Nicht nur, daß du keine besitzt, du bist vollkommen unbeleckt von ihr. Das Haus Rahl wurde in Zeiten eines großen Krieges geschaffen, um ein Geschlecht mächtiger Zauberer hervorzubringen; dadurch aber wurde auch die Saat ausgestreut für das Ende der Magie in der Welt. Mag sein, daß auch die Imperiale Ordnung eine Welt ohne Magie anstrebt, aber letztendlich wird es das Haus Rahl sein, das diese Welt herbeiführt. Möglicherweise bist du, Jennsen Rahl, der gefährlichste derzeit lebende Mensch, denn wie jeder wahrhaftig nicht mit der Gabe gesegnete Rahl bildest du jene Saat aus der diese neue Welt ohne Magie entstehen könnte.«

Jennsen starrte in seine grauen Augen. »Warum wolltet Ihr dann nicht meinen Tod, wie jeder andere Lord Rahl vor Euch?«

Richard lächelte. »Weil du, wie jeder andere auch, ein Recht auf Leben hast – wie übrigens auch jeder Lord Rahl. Es gibt keine einzig richtige Art und Weise, wie diese Welt zu sein hat. Das einzige Recht besteht darin, den Menschen ihr eigenes Leben zuzugestehen.«

Kahlan zog Schwester Perdita das Messer aus der Brust und wischte es an deren schwarzem Gewand ab, bevor sie es Jennsen zurückgab. »Schwester Perdita ist einem Irrtum erlegen. Man erlangt sein Seelenheil nicht durch Opfer. Jeder ist für sich selbst verantwortlich.«

»Dein Leben gehört dir«, fügte Richard hinzu, »und sonst niemandem. Ich war sehr stolz auf dich, als ich hörte, was du Sebastian an den Kopf geworfen hast.«

Von den Ereignissen noch immer benommen und verwirrt, blickte Jennsen auf das Messer in ihrer Hand. Sie sah sich in der aufkommenden Dunkelheit um, konnte Sebastian aber nirgendwo entdecken. Oba schien sich ebenfalls aus dem Staub gemacht zu haben.

Als sie bei ihrem Rundblick nicht weit entfernt eine Mord-Sith stehen sah, zuckte Jennsen erschrocken zusammen. »Einfach großartig«, beklagte sich die Frau soeben bei der Mutter Konfessor und warf dabei empört die Hände in die Luft. »Dieses Mädchen klingt schon genauso wie Lord Rahl. Vermutlich werde ich jetzt auf beide hören müssen.«

Kahlan ließ sich lächelnd nieder, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Steinsäule, an der man sie festgebunden hatte, und beobachtete Richard, der dabei die Ohren von Bettys Zwillingsjungen kraulte und zuhörte.

Betty ließ ihre beiden Jungen nicht aus den Augen; als sie sah, daß sie in Sicherheit waren, blickte sie hoffnungsvoll hoch zu Jennsen. Ihr kleiner Schwanz fing fröhlich an zu wedeln.

»Betty?«

Vergnügt sprang die Ziege an ihr hoch, sie hatte lange genug auf das Wiedersehen gewartet. Jennsen schloß das Tier weinend in ihre Arme, dann erhob sie sich und trat ihrem Bruder dem Lord Rahl, mutig entgegen.

»Aber warum wolltet Ihr Euch nicht genauso verhalten wie Eure Vorfahren? Warum? Wie konntet Ihr das alles riskieren, was in dem Buch geschrieben wird?«

Richard hakte seine Daumen hinter seinen Gürtel und holte tief Luft. »Das Leben findet in der Zukunft statt, nicht in der Vergangenheit. Durch Erfahrung können wir aus der Vergangenheit lernen, wie bestimmte Dinge sich künftig erreichen lassen; die Vergangenheit mit ihren lieben Erinnerungen vermag uns zu trösten, sie liefert die Grundlage für alles bislang Erreichte. Aber nur die Zukunft birgt das Leben. In der Vergangenheit leben, das heißt, sich bereitwillig dem Tod überlassen. Aber wenn man das Leben in vollen Zügen genießen will, muß jeder Tag neu erschaffen werden. Als rationale, denkende Wesen sind wir dazu verpflichtet, unseren Verstand zu gebrauchen, um vernunftgesteuerte Entscheidungen zu treffen und uns nicht blindlings auf das Althergebrachte zu verlassen.«

»Leben bedeutet Zukunft, nicht Vergangenheit«, sagte Jennsen leise bei sich, in Gedanken bereits bei all den Dingen, die das Leben jetzt für sie bereit hielt. »Wo in aller Welt habt Ihr das nur her?«

Richard mußte grinsen. »So lautet das siebente Gesetz der Magie.«

Jennsen blickte zu ihm hoch. »Ihr habt mir eine Zukunft geschenkt, dafür möchte ich Euch danken.«

Daraufhin umarmte er sie, und plötzlich fühlte sich Jennsen gar nicht mehr so allein auf der Welt. Sie fühlte sich wieder als vollständiges Wesen. Es tat so gut, in die Arme genommen zu werden, wahrend sie bittere Tränen über ihre Mutter vergoß, aber auch Freudentränen über ihre Zukunft und weil das Leben wieder vor ihr lag Kahlan strich Jennsen über den Rücken. »Willkommen in der Familie.«

Als Jennsen sich überglücklich lachend die Augen wischte und mit der anderen Hand Bettys Ohren kraulte, sah sie plötzlich Tom ganz in der Nähe stehen.

Jennsen lief zu ihm und warf sich ihm in die Arme. »Oh, Tom, Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, Euch zu sehen! Danke, daß Ihr mir Betty zurückgebracht habt.«

»So bin ich halt. Ich bringe Euch, wie versprochen, Eure Ziege. Wie sich herausstellte, wollte die Wurstverkäuferin Irma nur ein Jungtier von Eurer Ziege. Sie besitzt einen Ziegenbock und wünschte sich Nachwuchs. Ein Junges hat sie behalten und die beiden anderen Euch überlassen.«

»Betty hatte Drillinge?«

Tom nickte. »Ich fürchte, ich habe mich ziemlich in Betty und ihre beiden Kleinen verliebt.«

»Ich kann gar nicht glauben, daß Ihr das für mich getan habt. Ihr seid einfach großartig, Tom.«

»Das meinte meine Mutter auch immer. Vergeßt nicht, Ihr habt versprochen, Lord Rahl etwas auszurichten.«

Jennsen lachte vor lauter Freude. »Das werde ich auch ganz gewiß tun! Aber wie in aller Welt habt Ihr mich nur gefunden?«

Lächelnd zog Tom ein Messer hinter seinem Rücken hervor. Zu Jennsens Überraschung war es das exakte Gegenstück zu ihrem.

»Wißt Ihr«, erklärte er, »ich trage es in Diensten Lord Rahls.«

»Tatsächlich?«, fragte Richard. »Ich bin Euch bisher nicht einmal begegnet.«

»Oh«, warf die Mord-Sith ein, »Tom hier ist in Ordnung, Lord Rahl. Für ihn lege ich meine Hand ins Feuer.«

»Vielen Dank, Cara«, meinte Tom mit einem vergnügten Funkeln in den Augen.

»Dann wußtet Ihr die ganze Zeit, daß ich Euch etwas vorgemacht habe?«, fragte Jennsen.

Tom zuckte mit den Achseln. »Ich wäre wohl kaum ein geeigneter Beschützer des Lord Rahl, wenn ich eine verdächtige Person wie Euch, die es ganz offensichtlich auf jemanden abgesehen hat, frei herumlaufen ließe, ohne alles daranzusetzen, in Erfahrung zu bringen, was Ihr wohl im Schilde führt. Ich habe Euch keinen Moment aus den Augen gelassen und bin Euch ein großes Stück Eurer Reise gefolgt.«

Jennsen gab ihm scherzhaft einen deftigen Klaps auf die Schulter. »Ihr habt mir nachspioniert!«

»Als Beschützer des Lord Rahl mußte ich wissen, was Ihr vorhabt, und sicherstellen, daß Ihr Lord Rahl kein Leid zufügt.«

»Nun«, meinte sie, »in diesem Fall kann ich aber nicht behaupten, daß Ihr gute Arbeit geleistet hättet.«

»Was wollt Ihr damit sagen?« Tom gab sich übertrieben empört.

»Ich hätte ihn doch tatsächlich erstechen können. Ihr standet die ganze Zeit dort drüben, viel zu weit entfernt, um einzugreifen.«

Tom setzte sein Jungenlächeln auf.

»Oh, ich hätte niemals zugelassen, daß Ihr Lord Rahl verletzt.«

Tom drehte sich um und wog sein Messer in der Hand, und plötzlich sirrte die Klinge mit einer irrwitzigen Geschwindigkeit quer durch die Senke und bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch in eine der fernen, umgestürzten Sandsteinsäulen. Jennsen kniff die Augen zusammen und konnte gerade eben erkennen, daß sie etwas Dunkles aufgespießt hatte.