Oba.
Oba war die Stimme nur zu vertraut, er hörte sie, solange er zurückdenken konnte, hatte aber seiner Mutter nie von ihr erzählt. Sie würde nur wütend werden und denken, es sei das Böse, das ihn rief. Und sie würde ihn bloß zwingen, noch mehr Tränke und Arzneien zu schlucken. Mittlerweile war er zu groß, um in den Verschlag gesperrt zu werden, aber er war nicht zu groß, um Latheas Arzneien zu schlucken.
Als eine der Ratten an ihm vorüberflitzte, trat Oba ihr auf den Schwanz und sie saß in der Falle.
Oba.
Die Ratte gab ein leises Quieken von sich. Ihre winzigen Rattenfüße trippelten, als sie zu entkommen versuchte, und winzige Rattenkrallen scharrten über das schwarze Eis.
Oba langte nach unten, schnappte sich den fetten, pelzigen Körper und besah sich das mit Schnurrbarthaaren besetzte Gesicht. Das kleine Köpfchen wand sich vergeblich hin und her. Kleine, schwarze Knopfaugen starrten ihn an.
Die Augen waren von Angst erfüllt.
Gib dich hin.
Oba fand es überlebenswichtig, immer wieder etwas dazuzulernen. Flink wie ein Wiesel biß er der Ratte den Kopf ab.
8
Von der nach ihrem Dafürhalten am wenigsten unangenehmen Ecke des Schankraums aus hielt Jennsen ein Auge sowohl auf die Tür als auch auf die lärmende Menge. Sebastian stand ein Stück entfernt an den mächtigen, hölzernen Plankentresen gelehnt und unterhielt sich mit der Besitzerin des Wirtshauses. Sie war eine dicke Frau mit abweisender, finsterer Miene, der man ansah, daß sie Ärger nicht nur gewöhnt war, sondern auch gewillt, mit ihm fertig zu werden.
Die Leute im übervollen Schankraum, größtenteils Männer, waren eine ausgelassene Gesellschaft. Einige würfelten, andere maßen sich im Armdrücken. Die meisten tranken und erzählten sich Scherze, die die anderen tischeweise in schallendes Gelächter ausbrechen ließen. Gelächter hatte in Jennsens Ohren einen obszönen Beiklang, denn in ihrer Welt gab es keine Freude.
Die letzte Woche war wie im Nebel an ihr vorbeigezogen. Oder war es mehr als eine Woche gewesen? Sie konnte sich nicht mal erinnern, wie lange genau sie unterwegs gewesen waren. Doch was machte das schon? Was zählte überhaupt noch etwas?
Jennsen war die Gesellschaft von Menschen nicht gewöhnt, Menschen waren für sie immer mit Gefahr verbunden gewesen. In Gruppen machten sie sie nervös – um so mehr, wenn sie sich in einem Gasthaus befanden, sich betranken und spielten. Doch sie hielt den glotzenden Blicken der Männer stand, schlug die Kapuze ihres Umhangs zurück und ließ die dichten Locken ihres roten Haars über die Schultern fallen. Gewöhnlich reichte das; sie wandten den Blick ab und kümmerten sich wieder um ihre eigenen Angelegenheiten.
Jennsens rotes Haar war den Leuten unheimlich, vor allen den Abergläubischen unter ihnen. Rotes Haar war so ungewöhnlich, daß es augenblicklich Mißtrauen erregte; es weckte in den Leuten die Sorge, sie könnte womöglich die Gabe besitzen oder vielleicht sogar eine Hexe sein. Indem sie ihren Blicken unerschrocken standhielt, trieb Jennsen ihr Spiel mit diesen Ängsten. In der Vergangenheit hatte ihr das geholfen, sich zu schützen, oft besser, als ein Messer dies vermocht hätte.
Jennsen blickte am Tresen entlang. Die stämmige Wirtsfrau starrte sie an, starrte auf ihr rotes Haar, doch als Jennsen auch ihren Blick trotzig erwiderte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit rasch wieder Sebastian zu. Er war gerade dabei, ihr eine weitere Frage zu stellen, und bei ihrer Antwort beugte sich die Frau ganz nah zu ihm. Jennsen konnte sie nicht verstehen, sah aber, daß Sebastian auf die dicht an seinem Ohr gesprochenen Worte mit einem Nicken antwortete. Sie deutete über die Köpfe ihrer Stammgäste hinweg; offenbar erklärte sie ihm gerade einen Weg.
Sebastian richtete sich auf, nahm eine Münze aus seiner Tasche und schob sie der Frau über die Theke, woraufhin er dafür einen Schlüssel aus einem hinter ihr befindlichen Kasten erhielt. Sebastian nahm den Schlüssel, schnappte sich seinen Krug und wünschte der Frau einen guten Tag.
Am Ende des Tresens angelangt, beugte er sich ganz nah zu Jennsen, damit sie ihn verstand, und gestikulierte mit seinem Krug. »Möchtet Ihr ganz bestimmt nichts trinken?«
Jennsen schüttelte den Kopf.
Er behielt die Leute im vollen Schankraum im Auge, mittlerweile schien jeder wieder mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. »Es war gut, daß Ihr Eure Kapuze zurückgeschlagen habt. Die Frau des Hauses hat so getan, als wüßte sie von nichts, bis sie Euer rotes Haar sah. Dann plötzlich löste sich ihre Zunge.«
»Die Frau kennt sie? Sie lebt noch immer hier in Gretton, wie meine Mutter meinte?«
Sebastian nahm einen tiefen Zug, während er beobachtete, wie ein Wurf beim Würfeln einen Beifallssturm für den Gewinner auslöste. »Sie hat mir den Weg dorthin beschrieben.«
»Und? Habt Ihr uns Zimmer besorgt?«
»Nur eins.« Er nahm einen weiteren Schluck, bemerkte ihre Reaktion. »Es ist besser, wenn wir zusammen bleiben, für den Fall, daß es Ärger gibt. Ich dachte, es wäre sicherer, wenn wir beide in einem Zimmer übernachten.«
»Ich würde lieber bei Betty schlafen.« Als sie merkte, wie das geklungen haben mußte, wandte sie verlegen den Blick ab und fügte hinzu, »Als in einem Gasthaus, meine ich. Ich wäre lieber allein, statt an einem Ort, wo überall um uns herum so viele Menschen sind. Selbst im Wald würde ich mich sicherer fühlen als hier, eingesperrt in einem Zimmer. Damit wollte ich nicht sagen ...«
»Ich weiß schon, was Ihr damit sagen wolltet.« Sebastians Lächeln zeigte sich auch in seinen blauen Augen. »Ein Dach über dem Kopf wird Euch gut tun, die Nacht wird mit Sicherheit bitterkalt. Und Betty ist im Stall ebenfalls besser untergebracht.«
Der Mann, der den Stall betrieb, hatte ein wenig überrascht auf die Frage reagiert, ob er eine Ziege über Nacht einstellen könne, aber da Pferde meist die Gesellschaft von Ziegen mögen, hatte er sich bereit erklärt, sie aufzunehmen.
In der allerersten Nacht hatte Betty ihnen wahrscheinlich das Leben gerettet. Wenn Jennsen nicht ein trockenes Plätzchen unter einem Felsvorsprung gefunden hätte, hätte Sebastian mit seinem Fieber vermutlich nicht überlebt. Der hintere Teil des schmalen Einschnitts unter dem Überhang hatte sich zu einem engen Winkel verjüngt, war für die beiden aber gerade groß genug gewesen. Jennsen hatte Balsamtannenund Föhrenzweige abgeschnitten, um die Mulde damit auszulegen, damit der Stein ihnen nicht die Körperwärme entziehen konnte. Betty hatte ihren Körper eng an sie geschmiegt, die Kälte ferngehalten und ihre Wärme abgegeben – und ihnen so ein trockenes, warmes Nachtlager beschert.
Die ganze lange, elende Nacht hindurch hatte Jennsen still vor sich hin geweint. Wenigstens war sie erleichtert gewesen, daß Sebastian, fieberkrank, wie er war, etwas Schlaf gefunden hatte. Am nächsten Morgen, der den ersten Tag in Jennsens trostlosem neuen Leben ohne ihre Mutter ankündigte, war sein Fieber zurückgegangen.
Die Vorstellung, daß sie die Leiche ihrer Mutter dort am Haus ganz allein zurückgelassen hatte, verfolgte Jennsen unentwegt; die Erinnerung an den grauenerregenden Anblick verursachte ihr Alpträume. Der Tod ihrer Mutter löste bei ihr eine nicht enden wollende Flut von Tränen aus und ließ sie vor Kummer fast zusammenbrechen. Das Leben erschien ihr traurig und bedeutungslos.
Aber Sebastian und Jennsen waren entkommen, sie hatten überlebt. Dieser instinktive Selbsterhaltungstrieb und das Wissen um alles, was ihre Mutter zur Sicherung ihres Überlebens unternommen hatte, hielt sie aufrecht.
»Wir sollten etwas zu Abend essen«, schlug Sebastian vor. »Es gibt Lammeintopf. Anschließend solltet Ihr Euch einmal richtig in einem warmen Bett ausschlafen, bevor wir diese alte Bekannte von Euch aufsuchen. Ich werde Wache halten, solange Ihr schlaft.«