Jennsen schüttelte den Kopf. »Nein. Gehen wir sie gleich besuchen, schlafen können wir auch später noch.« Sie hatte Leute den sämigen Eintopf aus hölzernen Schalen löffeln sehen; der Gedanke an Essen hatte für sie nichts Verlockendes.
Sebastian musterte ihren Gesichtsausdruck und kam zu dem Schluß, daß er es ihr nicht würde ausreden können; also leerte er seinen Krug und stellte ihn auf den Tresen. »Es ist nicht weit. Wir befinden uns auf der richtigen Seite der Ortschaft.«
Draußen, in der aufkommenden Dunkelheit, fragte sie, »Warum wolltet Ihr eigentlich ausgerechnet hier in diesem Gasthaus absteigen? Es gab doch andere, viel nettere Wirtshäuser, wo die Leute nicht so ... ungebildet wirkten.«
Seine blauen Augen strichen suchend über die Gebäude, die dunklen Türeingänge und die engen Gassen hinweg, während er das Heft seines Schwertes unter dem Umhang ertastete. »Ungebildete Leute stellen weniger Fragen, erst recht nicht die Sorte Fragen, auf die wir keine Antwort geben wollen.«
Er kam ihr vor wie ein Mann, der es gewohnt war, ausgefragt zu werden.
Mit kleinen Schritten tastete sie sich an der schmalen Furche einer hart gefrorenen Fahrspur entlang und folgte ihr die Straße hinunter zum Haus der Frau, einer Frau, an die Jennsen sich nur verschwommen erinnerte; dennoch klammerte sie sich fest an die Hoffnung, daß diese Frau ihnen würde helfen können. Ihre Mutter hatte sicherlich einen Grund gehabt, sie nicht wieder aufzusuchen, aber Jennsen wußte nicht, was sie sonst versuchen sollte, als eben jene Frau um Hilfe zu bitten.
Nach dem Tod ihrer Mutter war Jennsen auf Hilfe angewiesen, denn die anderen drei Angehörigen des Quadrons waren ihr gewiß längst auf den Fersen. Fünf Tote, was besagte, daß es mindestens zwei Quadronen gewesen sein mußten. Gut möglich, daß es mehr waren, aber selbst wenn nicht, würden es vermutlich schon bald mehr sein.
Sie hatten fliehen können, weil sie den versteckten Pfad benutzt hatten, der von ihrem Haus wegführte – womit die Soldaten wahrscheinlich nicht gerechnet hatten –, so daß sie und Sebastian sich aufgrund ihres Vorsprungs vorübergehend in Sicherheit wiegen konnten. Der Regen hatte höchstwahrscheinlich auch seinen Teil dazu beigetragen, etwaige Spuren zu verwischen. Gut möglich, daß die beiden fürs Erste in Sicherheit waren. Aber da es sich bei ihrem Verfolger um Lord Rahl persönlich handelte, war es ebenso gut vorstellbar, daß die Meuchler aufgrund irgendwelcher rätselhafter und geheimnisvoller Machenschaften die Schlinge mit jedem Augenblick enger um sie zogen.
An einer einsamen Häuserecke deutete Sebastian nach rechts. »Hier, diese Straße entlang.«
Binnen kurzem hatten sie das bebaute Gebiet hinter sich gelassen. Bäume drängten sich, schutzlos dem bitterkalten Wind ausgesetzt, in Gruppen zusammen. Als sie zu einer Kreuzung gelangten, wies Sebastian nach vorn.
»Nach der Wegbeschreibung liegt das Haus am Ende dieser Straße, dort drüben in der kleinen Baumgruppe.«
Die Straße machte einen wenig befahrenen Eindruck. Der schwache Lichtschein eines fernen Fensters stahl sich zwischen kahlen Eichenund Holunderzweigen hindurch. Das Licht war weniger ein herzlicher Willkommensgruß als vielmehr eine leuchtende Warnung fortzubleiben.
»Warum wartet Ihr nicht hier«, schlug sie vor. »Es ist vielleicht besser, wenn ich allein gehe.«
Es war ihre Absicht, ihm damit eine Ausrede zu liefern; die meisten Menschen wollten nichts mit einer Hexenmeisterin zu schaffen haben, selbst Jennsen hätte gerne eine andere Möglichkeit gehabt.
»Ich werde Euch begleiten.«
Bislang hatte er gegenüber allem, was mit Magie zu tun hatte, ein entschiedenes Mißtrauen an den Tag gelegt. So wie seine Augen die dunkle Stelle zwischen den Bäumen und den etwas seitlich stehenden Sträuchern musterten, hätte man meinen können, er versuchte tapferer zu klingen, als er tatsächlich war...
Jennsen erteilte sich selbst einen Rüffel, daß sie solche Gedanken überhaupt zugelassen hatte. Er hatte gegen die d’Haranischen Soldaten gekämpft, die nicht nur viel größer waren als er, sondern auch noch in der Überzahl; er hätte einfach draußen in der Höhle bleiben können, ohne sein Leben zu riskieren; er hätte den Schauplatz dieses Blutbads einfach verlassen und seiner Wege gehen können. Seine Angst vor Magie war lediglich ein Beweis für seinen gesunden Menschenverstand. Gerade sie sollte eigentlich Verständnis dafür haben, wenn jemand sich vor Magie fürchtete.
Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, als die beiden dem schmalen Pfad zwischen den Bäumen hindurch folgten. Sebastian hielt nach den Seiten Ausschau, während Jennsens Aufmerksamkeit in erster Linie dem Haus galt. Hinter dem kleinen Wohnhaus erstreckten sich die Wälder bis in die Ausläufer der Berge. Jennsen vermutete, daß nur jemand in einer echten Notlage sich trauen würde, diesen Pfad zu dieser Tür hinaufzugehen.
Die Nähe ihres Hauses zum Ort legte für Jennsen den Schluß nahe, daß die Hexenmeisterin jemand sein mußte, die den Menschen half, jemand, dem die Menschen vertrauten. Durchaus möglich, daß die Frau ein geachtetes und angesehenes Mitglied der Gemeinde war – eine Heilerin, die sich ganz der Hilfe anderer verschrieben hatte, und kein Mensch, den man fürchten mußte.
Ein Windstoß ging heulend durch die Bäume ringsum, als Jennsen an die Tür klopfte. Sebastian musterte den Wald zu beiden Seiten mit forschendem Blick, wenigstens leuchteten die Lichter der Wohn- und Geschäftshäuser weit hinter ihnen hell genug, damit sie den Rückweg fanden.
Während sie wartete, wurde auch Jennsens Blick von der Dunkelheit angezogen, die sie umgab. Sie bildete sich ein, daß sie aus dem Dunkel heraus beobachtet wurden, und die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf.
Endlich wurde die Tür nach innen aufgezogen, aber nur einen Spaltbreit, und es zeigte sich das Gesicht der Frau, die sie von drinnen musterte. »Ja?«
Jennsen vermochte die im Schatten liegenden Züge des Gesichts nicht klar zu erkennen, die Frau dagegen konnte Jennsen ganz deutlich sehen.
»Seid Ihr Lathea?«, fragte sie. »Lathea, die ... Hexenmeisterin?«
»Warum?«
»Uns wurde gesagt, daß hier Lathea, die Hexenmeisterin wohnt. Falls Ihr das seid, dürften wir hineinkommen?«
Die Tür wurde noch immer kein Stück weiter geöffnet. Jennsen raffte ihren Umhang enger, gegen die kalte Nachtluft, aber auch wegen des frostigen Empfangs. Die Frau musterte mit unerschütterlicher Miene erst Sebastian, anschließend Jennsens unter ihrem schweren Umhang verborgenen Körper.
»Ich bin keine Hebamme. Falls ihr jemanden sucht, der euch bei den Schwierigkeiten hilft, in denen ihr steckt, kann ich euch nicht weiterhelfen.«
Jennsen fühlte sich zutiefst gekränkt. »Deswegen sind wir nicht hergekommen!«
Die Frau musterte die beiden Fremden vor ihrer Tür nachdenklich. »Welche Art Medizin braucht ihr dann?«
»Keine Medizin. Einen ... Zauber. Ich bin Euch früher schon begegnet, ein einziges Mal. Ihr habt mir geholfen, als ich noch sehr klein war.«
Das in den Schatten verborgene Gesicht runzelte die Stirn. »Wann? Wo überhaupt?«
Jennsen räusperte sich. »Im Palast des Volkes, als ich noch dort lebte. Ihr habt mir geholfen, als ich noch ein kleines Mädchen war.«
»Geholfen, wobei denn? So red schon, Mädchen.«
»Ihr habt mir geholfen ... mich zu verstecken. Mit irgendeiner Art Bann, soweit ich weiß. Ich war damals klein, deswegen erinnere ich mich nicht genau.«
»Dich zu verstecken?«
»Vor Lord Rahl.«
Aus dem Haus drang ehrfürchtiges Schweigen.
»Erinnert Ihr Euch jetzt? Mein Name ist Jennsen.« Sie schlug die Kapuze zurück, damit die Frau, ihre roten Locken sehen konnte.
»Jennsen. An den Namen erinnere ich mich nicht, aber das Haar erkenne ich wieder. Es geschieht nicht oft, daß man solches Haar zu sehen bekommt.«
Vor Erleichterung bekamen Jennsens Lebensgeister neuen Auftrieb. »Es ist schon eine Weile her. Ich bin so froh zu hören, daß ...«
»Mit solchen wie dir habe ich nichts zu schaffen«, sagte die Frau. »Hatte ich noch nie. Ich werde keinen Bann für dich sprechen.«