Oba.
»Was war das eigentlich, das Ihr Mama von Anfang an geraten habt?«
»Liegt das nicht auf der Hand?«
Oba.
Als es ihm dämmerte, überlief es ihn eiskalt.
»Ihr meint, sie hätte mich umbringen sollen?«
Nie zuvor hatte er sich herausgenommen, eine solche Dreistigkeit so offen auszusprechen. Nicht ein einziges Mal hatte er es gewagt, auf welche Weise auch immer, der Hexenmeisterin die Stirn zu bieten – dafür hatte er viel zu große Angst vor ihr. Diesmal aber waren ihm die Worte einfach durch den Kopf geschossen, ganz wie die Stimme, und er hatte sie ausgesprochen, bevor sich eine Gelegenheit bot, zu überlegen, ob das klug war oder nicht.
Lathea hatte er damit noch mehr überrascht als sich selbst. Sie zögerte über ihren Fläschchen und sah ihn an, als wäre er vor ihren Augen zu einem anderen Menschen geworden. Und vielleicht stimmte das ja sogar.
In diesem Augenblick wurde ihm klar, daß es ihm gefiel, seine Meinung offen auszusprechen.
Er hatte Lathea noch nie unsicher werden sehen, was möglicherweise daran lag, daß sie sich sicher fühlte, wenn sie geschickt um den heißen Brei herumredete und sich hinter den Worten verschanzte, ohne jemals erleben zu müssen, daß irgend etwas offen ausgesprochen wurde.
»War es das, was Ihr ihr immer geraten habt, Lathea? Daß sie ihren kleinen Bankert töten soll?«
Ein gequältes Lächeln umspielte ihre dünnen Lippen. »Es war nicht so, wie du es klingen machst, Oba.« Alles niederträchtig Schleppende, aller Hochmut war aus ihrem Tonfall gewichen. »Ganz und gar nicht.« Mehr als je zuvor sprach sie jetzt mit ihm wie mit einem Mann, statt ihn als den kleinen bösartigen Bankert zu behandeln, den sie bestenfalls duldete; sie klang fast freundlich. »Manchmal stehen sich Frauen ohne ihr Neugeborenes besser. Es ist nicht so schlimm, wenn das Kleine gerade geboren ist. Dann ist es ... noch keine so weit entwickelte Persönlichkeit.«
Oba. Gib dich hin.
»Mit anderen Worten, es ist einfacher.«
»Ganz genau«, bestätigte sie, seine Worte geradezu begierig aufgreifend. »Es wäre einfacher.«
Jetzt war es seine Stimme, die bedächtiger wurde und eine Schärfe annahm, die er sich zuvor niemals zugetraut hätte. »Ihr meint also, es wäre einfacher ... bevor sie groß genug sind, um sich dagegen zu wehren.«
Das Ausmaß seiner verborgenen Talente erstaunte ihn; dies war ein Abend wundersamer Neuerungen.
»Unsinn, nein, das meinte ich keineswegs.« Er dagegen fand sehr wohl, daß sie das meinte. Ihre Stimme, in der sich ein neu gewonnener Respekt für ihn widerspiegelte, wurde hektischer, bekam fast etwas Eindringliches. »Ich wollte damit nur sagen, daß es einfacher ist, bevor eine Frau ihr Kind zu lieben beginnt. Du weißt schon, bevor das Kind zu einer Persönlichkeit wird. Einer echten Persönlichkeit, mit einem eigenen Verstand. Dann ist es einfacher, und manchmal ist es für die Mutter so am besten.«
Oba war im Begriff, etwas Neues zu lernen, aber noch bekam er seine Gedanken nicht recht geordnet, spürte aber daß das Lernen neuer Dinge von größter Wichtigkeit war, daß er an der Schwelle zu wahrer Erkenntnis stand.
»Wieso ist es so für sie am besten?«
Lathea ließ vom Umfüllen der Flüssigkeit ab und stellte das Fläschchen fort. »Nun, manchmal bedeutet es Not und Mühsal, ein Kind zu bekommen. Für beide. Manchmal ... ist es für beide wirklich das Beste.«
Sie ging entschlossenen Schritts zum Schrank. Als sie mit einem weiteren Fläschchen zurückkehrte, trat sie um den Tisch herum auf die andere Seite, um ihm nicht länger den Rücken zuzukehren. Die meisten Zutaten seiner Arzneien waren Pulver oder Flüssigkeiten, und er hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handelte. Das Fläschchen, das sie mitgebracht hatte, enthielt eines der wenigen Dinge, die er wiedererkannte, die getrockneten Stengel der Bergfieberrose. Sie sahen aus wie braune verschrumpelte kleine Kreise mit einem Stern in der Mitte. Des Öfteren mischte sie einen davon unter seine Medizin, doch diesmal schüttete sie eine größere Menge in ihre hohle Hand, zerdrückte sie in der Faust und ließ die feinen braunen Krümel in die Arznei rieseln, die sie gerade zusammenmischte.
»Das Beste für beide, ja?«, fragte Oba.
Sie schien nicht zu wissen, was sie mit ihren Fingern anfangen sollte. »Ja, manchmal.« Offenbar wollte sie nicht weiter darüber sprechen, sah aber keine Möglichkeit, das Gespräch zu beenden. »Manchmal bedeutet es größere Not, als eine Frau ertragen kann, das ist alles – eine Not, die sie selbst und ihre anderen Kinder gefährdet.«
»Aber Mama hat keine anderen Kinder.«
Lathea verstummte für einen Augenblick.
Gib dich hin, Oba.
Er horchte auf die Stimme, die Stimme, die sich irgendwie völlig gewandelt hatte.
»Nein, aber trotzdem warst du ein großes Ungemach für sie. Es ist für eine Frau schwer, ein Kind allein großzuziehen. Erst recht ein Kind ...« Sie fing sich, setzte noch einmal an. »Ich wollte damit nur sagen, daß es oft schwierig ist.«
»Aber sie hat es getan. Schätze, Ihr habt Euch getäuscht. Ist es nicht so, Lathea? Ihr habt Euch geirrt. Nicht Mama – Ihr. Mama wollte mich.«
»Abgesehen davon war sie nie verheiratet«, fiel sie ihm barsch ins Wort. Ihr Zornesausbruch hatte das Feuer hochmütiger Autorität in ihren Augen aufs Neue entfacht. »Wenn sie ... wenn sie geheiratet hätte, möglicherweise hätte sie dann die Gelegenheit gehabt, eine vollständige Familie zu bekommen statt nur einen ...«
»Einen kleinen Bankert?«
Diesmal enthielt sich Lathea einer Antwort. Sie schien zu bedauern, daß sie ihre Meinung geäußert hatte; das zornige Funkeln in ihren Augen erlosch. Mit leicht zittriger Hand schüttete sie eine weitere Portion der getrockneten Blumenstengel in ihre Handfläche, zerdrückte sie rasch in der Faust und ließ sie in die Arznei rieseln. Dann wandte sie sich um und tat, als betrachtete sie die Flüssigkeit in dem blauen Glasfläschchen im Schein der Flammen ihres offenen Kamins.
Oba machte einen Schritt in Richtung Tisch. Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen.
»Gütiger Schöpfer ...«, hauchte sie, als sie seine Augen sah. Er merkte, daß sie nicht zu ihm, sondern zu sich selber sprach. »Manchmal, wenn ich in diese blauen Augen schaue, sehe ich ihn geradezu vor mir...«
Trotz seines wütenden Blicks runzelte Oba die Stirn.
Das Fläschchen glitt ihr aus der Hand, fiel auf den Tisch und rollte weiter, bis es auf den Boden schlug und dort zerschellte.
Oba. Gib dich hin. Gib deinen Willen hin.
Das war neu. Das hatte die Stimme noch nie zuvor gesagt.
»Ihr wolltet, daß Mama mich tötet, nicht wahr, Lathea?«
Er machte einen weiteren Schritt in Richtung Tisch.
Lathea erstarrte. »Keinen Schritt weiter, Oba.«
Aus ihren Augen, ihren kleinen Rattenaugen, sprach nackte Angst. Das war eindeutig neu! Er lernte fast schneller Neues hinzu, als er sich das alles merken konnte.
Dann sah er, wie sie ihre Hände hob, die Waffen einer Hexenmeisterin. Oba zögerte. Er stand da, auf der Hut, die Wachsamkeit in Person.
Gib dich hin, Oba, und du wirst unbesiegbar sein.
Das war nicht nur neu, das war geradezu alarmierend.
»Ich glaube, Ihr wollt mich mit Euren ›Arzneien‹ umbringen, hab ich Recht, Lathea? Ihr wollt, daß ich sterbe.«
»Ach was, Oba. Unsinn, das stimmt nicht. Ich schwöre, so ist es nicht.«
Ein weiterer Schritt – um die Verheißungen der Stimme auf die Probe zu stellen.
Sie hob die Hände, während ein Lichtschein rings um ihre zu Krallen gebogenen Finger zu Leben erwachte. Die Hexenmeisterin beschwor Magie herauf.
»Oba« – ihre Stimme klang jetzt kräftiger, fester –, »bleib endlich, wo du bist.«
Gib dich hin, Oba, und du wirst unbesiegbar sein.
Oba spürte, wie er im Vorwärtsgehen mit der Hüfte gegen den Tisch stieß. Klirrend und scheppernd stießen die Krüge aneinander; einer von ihnen geriet gefährlich ins Wanken, um dann tatsächlich zu kippen und seine dicke, rote Flüssigkeit zu verschütten.