10
Jennsen wollte nicht wieder zurück in das Gasthaus, doch angesichts von Kälte und Dunkelheit wußte sie nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Latheas Weigerung, ihnen eine Antwort auf ihre Fragen zu geben, war über die Maßen entmutigend, dabei hatte Jennsen doch ihre ganze Hoffnung auf die Hilfe dieser Frau gesetzt.
»Wie sollen wir morgen weiter vorgehen?«, wollte Sebastian wissen.
»Morgen?«
»Nun ja, wollt Ihr noch immer, daß ich Euch helfe, D’Hara zu verlassen, wie Ihr und Eure Mutter mich gebeten habt?«
Sie hatte noch gar nicht richtig darüber nachgedacht. Angesichts der spärlichen Informationen, die Lathea ihnen gegeben hatte, war Jennsen unschlüssig, wie sie weiter vorgehen sollten. Gedankenverloren starrte sie in die menschenleere Nacht, während sie durch den verharschten Schnee stapften.
»Angenommen, wir gingen zum Palast des Volkes, würde ich dort bestimmt die eine oder andere Antwort bekommen«, überlegte sie laut. »Und mit ein wenig Glück auch Altheas Hilfe.«
Ein Besuch im Palast des Volkes war bei weitem die gefahrvollste Alternative. Aber wohin sie auch floh, wo sie sich auch versteckte – der Magie des Lord Rahl würde sie sich nirgendwo entziehen können. Vielleicht konnte Althea ja tatsächlich helfen. Vielleicht wäre sie im Stande, Jennsen vor ihm zu verstecken, damit sie ihr eigenes Leben leben konnte.
Sebastian hatte sich ihre Worte offenbar ernsthaft durch den Kopf gehen lassen. »Also abgemacht, Wir gehen zum Palast des Volkes und versuchen diese Althea ausfindig zu machen«, sagte er schließlich zu Jennsen.
Als ihr klar wurde, daß er nicht die Absicht hatte, irgendwelche Einwände zu erheben oder es ihr auszureden, beschlich sie ein leichtes Unbehagen. »Der Palast des Volkes ist das Herzstück D’Haras, und nicht nur das, er ist auch der Wohnsitz des Lord Rahl.«
»Dann wird er wohl kaum erwarten, daß Ihr Euch dort blicken laßt, oder?«
Ob man sie dort erwartete oder nicht – sie würden sich geradewegs in die Höhle des Löwen begeben. Jennsen warf einen flüchtigen Blick auf die schattenhafte Gestalt, die neben ihr herging. »Was tut Ihr eigentlich in D’Hara, Sebastian? Ihr scheint das Land nicht sonderlich zu mögen. Warum bereist Ihr ein Land, das Euch nicht gefällt?«
Sie sah ihn unter seiner Kapuze schmunzeln. »Merkt man mir das so deutlich an?«
Jennsen zuckte mit den Achseln. »Ich bin schon früher Reisenden begegnet. Sie erzählen von den Orten, wo sie gewesen sind, von den Sehenswürdigkeiten, die sie sich angesehen haben, von erstaunlichen Dingen, wunderschönen Tälern und atemberaubenden Gebirgen, von faszinierenden Städten. Ihr dagegen erwähnt mit keinem Wort, wo Ihr gewesen seid oder was Ihr gesehen habt.«
»Wollt Ihr die Wahrheit hören?«, fragte er, sein Gesicht plötzlich sehr ernst.
Jennsen wandte den Blick ab, wurde plötzlich verlegen und kam sich neugierig vor – besonders in Anbetracht dessen, was sie ihm alles verschwieg.
»Entschuldigt. Es steht mir nicht zu, solche Fragen zu stellen. Vergeßt, daß ich davon angefangen habe.«
»Mir macht das nichts aus.« Mit einem schiefen Grinsen im Gesicht sah er zu ihr hinüber. »Ich glaube, Ihr würdet mich wohl kaum an die d’Haranischen Soldaten verraten.«
Sie erschrak bereits bei dem bloßen Gedanken. »Natürlich nicht.«
»Lord Rahl und sein Reich D’Hara haben es sich zum Ziel gesetzt, die Weltherrschaft zu übernehmen, doch genau das versuche ich zu verhindern. Wie ich Euch bereits sagte, stamme ich von südlich D’Haras. Ich wurde von unserem Führer ausgesandt, dem Kaiser der Alten Welt – Jagang dem Gerechten. Ich bin Kaiser Jagangs Oberster Stratege.«
»Dann seid Ihr ein sehr mächtiger Mann«, entfuhr es ihr staunend. »Ein Mann von hohem Rang.« Das Staunen wich rasch nervöser Schüchternheit. Sie scheute davor zurück, Vermutungen über seine Wichtigkeit, seine Stellung anzustellen, die in ihrer Fantasie mit jedem Augenblick wuchsen. »Und wie soll ich einen Mann Eures Ranges ansprechen?«
»Mit meinem Namen, Sebastian.«
»Aber Ihr seid ein bedeutender Mann, ich dagegen bin bloß ein Niemand.«
»Oh, Ihr seid durchaus jemand, Jennsen Daggett. Wer von Lord Rahl höchstpersönlich verfolgt wird, kann kein Niemand sein.«
Ein ebenso seltsames wie unerwartetes Gefühl von Unbehagen überkam Jennsen. Zwar verband sie keine besonders innige Zuneigung mit D’Hara, trotzdem war ihr etwas unwohl bei dem Gedanken, daß der Grund für Sebastians Hiersein die Zerstörung ihres Landes war.
Diese Treuegefühle ihrem Land gegenüber verwirrten sie. Schließlich hatte Lord Rahl die Männer ausgesandt, die ihre Mutter ermordet hatten. Und Lord Rahl machte auch Jagd auf Jennsen und wollte ihren Tod.
Wohlgemerkt, es war Lord Rahl, der ihren Tod wollte, nicht notwendigerweise die Menschen ihres Landes. Die Berge und Flüsse, die unermeßlichen Ebenen, die Baume sowie die gesamte übrige Pflanzenwelt – all das hatte ihr stets ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen gegeben. In diesem Licht hatte sie es noch nie wirklich betrachtet – daß sie ihr Heimatland lieben und dennoch diejenigen hassen konnte, die es regierten.
Andererseits würde der Erfolg dieses Kaisers, Jagangs des Gerechten, sie von ihrem Verfolger erlösen, denn eine Niederlage D’Haras würde auch den Untergang des Lord Rahl besiegeln. Dann wäre sie endlich frei, ihr eigenes Leben zu leben.
Außerdem erschien es ihr angesichts seiner Offenheit ihr gegenüber töricht, Sebastian zu verschweigen, wer sie war und warum Lord Rahl sie verfolgte. Sie wußte das alles selbst nicht ganz genau, immerhin aber genug, um sich darüber im Klaren zu sein, daß Sebastian ihr Schicksal teilen würde, sollte man ihn zusammen mit ihr erwischen.
Während sie so darüber nachdachte, dämmerte ihr allmählich; warum er vielleicht gar nichts dagegen einzuwenden hätte, den Palast des Volkes aufzusuchen, warum er durchaus bereit sein könnte, eine so gefährliche Reise zu wagen. Als Oberstem Strategen Kaiser Jagangs käme ihm die Gelegenheit, einen Blick in die Höhle des Löwen werfen zu können, vielleicht gerade recht.
»Da wären wir«, meinte er.
Sie hob den Blick und gewahrte die weiße Schindelfassade des Gasthauses vor sich. Sebastian legte ihr beschützend einen Arm um die Schultern, als sie sich einen Weg durch den riesigen Schankraum bahnten, um sie vor den neugierigen Blicken in Schutz zu nehmen, während er sie zur Treppe auf der gegenüberliegenden Seite führte; Gedränge und Lärm in der Gaststube schienen erstaunlicherweise sogar noch zugenommen zu haben.
Ohne innezuhalten gingen die beiden die Treppe hinauf und ein Stück den dunklen Flur entlang. Rechter Hand entriegelte Sebastian eine Tür und drehte drinnen den Docht der auf dem kleinen Tisch stehenden Öllampe hoch. Neben der Lampe gab es einen Wasserkrug mit Waschschüssel und gleich beim Tisch eine Bank. An der Seitenwand des Zimmers stand ein in seiner Wuchtigkeit bedrohlich wirkendes Bett, das schlampig mit einer dunkelbraunen Decke zugedeckt war.
Das Zimmer machte einen besseren Eindruck als ihr Zuhause, das sie aufgegeben hatte, doch Jennsen gefiel es trotzdem nicht. Eine Wand war mit einem gelblich braunen, bemalten Leinenstoff bezogen. Die verputzten Wände waren schmutzig und voller Flecken. Da sich das Zimmer im ersten Stock befand, führte der einzige Weg nach unten wieder zurück durch die Gaststube. Sie fand den Gestank im Zimmer widerlich – eine säuerliche Mischung aus Pfeifenrauch und Urin.
Während Jennsen ein paar Dinge aus ihrem Rucksack nahm und zum Tisch hinüberging, um sich das Gesicht zu waschen, überließ Sebastian sie ihrem Tun und ging wieder nach unten. Sie war gerade mit Waschen fertig und hatte sich das Haar gebürstet, als er mit zwei Schalen Lammeintopf zurückkehrte; außerdem hatte er braunes Brot sowie zwei Krüge Bier mitgebracht. Sie aßen, auf der kurzen Bank eng beieinander sitzend, über den Tisch gebeugt, ganz nah beim Schein der flackernden Öllampe.