Der Eintopf schmeckte längst nicht so gut, wie er aussah. Sie pickte sich die Fleischstücke heraus, das farb- und geschmacklose verkochte Gemüse dagegen rührte sie nicht an. Einen Teil der Flüssigkeit tunkte sie mit dem harten Brot auf, doch ihr Bier überließ sie Sebastian und trank statt dessen Wasser. Das Bier hatte für sie einen ebenso unangenehmen Geruch wie das Lampenöl, Sebastian schien es allerdings zu mögen.
Als sie fertig war mit Essen, lief Jennsen in der engen Kammer auf und ab wie Betty in ihrem Verschlag. Sebastian setzte sich rittlings auf die Bank und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Seine blauen Augen folgten ihr vom Bett zur Wand und wieder zurück.
»Warum legt Ihr Euch nicht hin und schlaft ein wenig«, schlug er mit sanfter Stimme vor. »Ich passe schon auf Euch auf.«
Mit einem Mal fühlte sie sich wie ein Tier in der Falle. Sie sah ihn fragend an, während er einen kräftigen Schluck Bier aus seinem Krug nahm. »Und wie gehen wir morgen weiter vor?«
Es war nicht nur ihre Abneigung gegen das Gasthaus und das Zimmer, auch ihr schlechtes Gewissen machte ihr zu schaffen. Deshalb wartete sie seine Antwort nicht ab, sondern fügte hinzu, »Sebastian, ich muß Euch darüber aufklären, wer ich bin, da Ihr mir gegenüber auch stets aufrichtig wart. Ich kann Euch unmöglich weiter begleiten und Eure Mission gefährden, denn ich weiß nichts über die wichtigen Dinge, die Ihr tut. Aber wenn Ihr weiter bei mir bleibt, bringt Ihr Euch in große Gefahr. Ihr habt mir bereits mehr geholfen, als ich mir erhofft hatte und darüber hinaus erwarten konnte.«
»Jennsen, ich bin allein schon durch mein Hiersein in Gefahr, denn ich befinde mich in Feindesland.«
»Und Ihr seid ein Mann von hohem Rang, ein wichtiger Mann.« Sie versuchte sich ein wenig Wärme in ihre eiskalten Finger zu reiben. »Wenn man Euch gefangen nähme, nur weil Ihr mich begleitet habt... also, ich könnte das nicht ertragen.«
»Es war meine Entscheidung, hierher zu kommen.«
»Aber ich war nicht aufrichtig zu Euch – ich habe Euch zwar nicht angelogen, habe Euch aber etwas verschwiegen, das ich Euch längst hätte sagen sollen. Ihr seid ein zu wichtiger Mann, um mich zu begleiten, ohne zu wissen, weshalb man mich verfolgt oder worum es bei dem Überfall in unserem Haus ging.« Mühsam versuchte sie, den schmerzhaften Kloß in ihrer Kehle hinunterzuschlucken. »Und weshalb meine Mutter ihr Leben lassen mußte.«
Er erwiderte nichts, sondern ließ ihr einfach Zeit, sich zu sammeln und es ihm in ihren eigenen Worten zu erklären. Vom ersten Augenblick ihrer Begegnung an war er ihr niemals zu nahe gekommen, nachdem er ihre Angst bemerkt hatte, und hatte ihr stets den Raum gelassen, den sie brauchte, um sich sicher zu fühlen. Dafür hatte er mehr verdient, als sie ihm bislang gegeben hatte.
Schließlich blieb Jennsen stehen und betrachtete ihn, seine blauen Augen – blaue Augen, ganz wie ihre und die ihres Vaters.
»Sebastian, Lord Rahl – der letzte Lord Rahl, Darken Rahl – war mein Vater.«
Er nahm die Neuigkeit ohne erkennbare Regung auf. so daß sie unmöglich wissen konnte, was er dachte.
»Meine Mutter arbeitete im Palast des Volkes, sie gehörte zum Palastpersonal. Darken Rahl ... er hatte ein Auge auf sie geworfen. Es ist das Privileg des Lord Rahl, sich jede Frau zu nehmen, die sein Begehren weckt.«
»Jennsen, Ihr müßt nicht...«
Sie hob eine Hand und brachte ihn so zum Schweigen, denn sie wollte dies alles loswerden, bevor sie der Mut verließ.
»Sie war damals vierzehn«, begann Jennsen ihre Geschichte so ruhig wie nur möglich. »Zu jung, um wirklich zu begreifen, wie es in der Welt zugeht was es mit Männern auf sich hat. Ihr habt selbst gesehen, wie schön sie war. Bereits in diesem zarten Alter war ihre Schönheit unübertroffen, zumal sie früher als die meisten ihres Alters zur Frau herangereift war. Sie besaß ein strahlendes Lächeln und war geradezu beseelt von einer unbefangenen Lebensfreude.
Aber sie hielt sich für einen derartigen Niemand, daß sie es aufregend fand, von einem so mächtigen Mann bemerkt – begehrt – zu werden, der jede Frau haben konnte, die er wollte. Das war natürlich dumm, doch für jemanden ihres Alters und ihres Ranges eben auch schmeichelhaft, und in ihrer Gutgläubigkeit muß es ihr geradezu wie ein Märchen vorgekommen sein.
Von älteren Frauen des Palastpersonals wurde sie gebadet und umsorgt, ihr Haar wurde zurechtgemacht wie das einer richtigen Dame. Für ihre Begegnung mit dem großen Mann wurde sie mit einem prachtvollen Abendkleid herausgeputzt. Als man sie zu ihm brachte, verneigte er sich vor ihr und gab ihr einen Kuß auf den Handrücken – ihr, einer Bediensteten seines prunkvollen Palastes!
Sie speiste mit ihm zu Abend, probierte all die seltenen und exotischen Speisen, die sie nie zuvor gekostet hatte. Nur die beiden, ganz allein an einer langen Tafel, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben von anderen bedient wurde.
Er war charmant und machte ihr Komplimente über ihre Schönheit, ihre Anmut. Er schenkte ihr Wein ein – Lord Rahl höchstpersönlich.
Als sie schließlich mit ihm allein war. wurde sie mit dem wahren Grund ihres Dortseins konfrontiert. Sie war zu verängstigt, um sich zu wehren. Natürlich hätte er auch dann mit ihr getan, was immer ihm beliebte, wenn sie sich ihm nicht voller Unterwürfigkeit hingegeben hätte. Seine Grausamkeit stand seinem Charme nämlich in nichts nach, und er wäre ohne die geringste Schwierigkeit mit jeder Frau fertig geworden. Er brauchte es nur zu befehlen, und schon wurde jeder der sich seinem Willen widersetzte, zu Tode gefoltert.
Aber sie kam überhaupt nicht auf die Idee, Widerstand zu leisten. Vermutlich erschien ihr die Welt im Zentrum all dieser Herrlichkeit und Macht, ihren dunklen Ahnungen zum Trotz, aufregend. Als sie sich dann für sie zum Alptraum entwickelte, ließ sie alles wortlos über sich ergehen.«
Jennsen wandte ihren Blick von Sebastians blauen Augen ab. »Eine Zeit lang nahm er meine Mutter zu sich ins Bett, bis er ihrer schließlich überdrüssig wurde und sich beliebig anderen Frauen zuwandte. Trotz ihrer jungen Jahre gab sich meine Mutter nicht der törichten Illusion hin, daß sie ihm etwas bedeutete. Sie wußte, daß er sich einfach nur nahm, was er begehrte und solange er es begehrte, und daß sie, sobald er mit ihr fertig wäre, schon bald vergessen sein würde. Also verhielt sie sich ganz wie eine Bedienstete, eine Bedienstete, der man geschmeichelt hatte, aber dennoch wie eine verängstigte, gutgläubige junge Bedienstete, die trotz allem klug genug war, sich einem Mann, der keinen Gesetzen außer seinen eigenen gehorchte, nicht zu widersetzen.
Ich war das Ergebnis dieser kurzen, schweren Prüfung in ihrem Leben, und der Beginn einer noch viel schwereren.«
Jennsen hatte diese entsetzliche Geschichte, die fürchterliche Wahrheit, noch nie zuvor jemandem erzählt. Sie fror, fühlte sich schmutzig. Und ihr war schlecht. Mehr als alles andere empfand sie einen tiefen Schmerz über das, was ihre Mutter durchgemacht haben mußte.
Ihre Mutter hatte die Geschichte nie in allen Einzelheiten geschildert, so wie Jennsen dies soeben getan hatte. Jennsen hatte ihr Leben lang Bruchstücke aneinander gefügt, bis sich in ihrem Kopf daraus schließlich ein vollständiges Bild ergab. Auch Sebastian hatte sie nicht sämtliche Einzelheiten – das ganze Ausmaß der grauenvollen Mißhandlung ihrer Mutter durch Darken Rahl – geschildert. Es erfüllte Jennsen zutiefst mit Scham, daß sie geboren werden mußte, um ihre Mutter tagein, tagaus an Geschehnisse zu erinnern, die zu entsetzlich waren, um sie je im Zusammenhang erzählen zu können.
Als Jennsen mit tränennassen Augen aufblickte, stand Sebastian ganz dicht vor ihr und strich ihr dann mit den Fingerspitzen ganz sacht über das Gesicht. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und fuhr fort, »Die Frauen und ihre Kinder bedeuten ihm nichts. Lord Rahl merzt alle nicht mit der Gabe gesegneten Nachkommen aus. Da er sich viele Frauen nimmt, sind Kinder aus diesen Verbindungen nichts Ungewöhnliches. Er hat es nur auf einen Einzigen abgesehen, seinen Erben, das einzige Kind aus seiner Nachkommenschaft, das die Gabe in sich trägt.«