»Richard Rahl«, meinte Sebastian.
»Richard Rahl«, bestätigte sie. »Mein Halbbruder.«
Ihr Halbbruder Richard Rahl, der sie verfolgte, wie sie sein Vater vor ihm verfolgt hatte; ihr Halbbruder Richard Rahl, der die Quadronen ausgesandt hatte, die sie töten sollten; ihr Halbbruder Richard Rahl, der die Quadronen ausgesandt hatte, die ihre Mutter umgebracht hatten.
Aber aus welchem Grund? Sie konnte doch unmöglich eine Gefahr für Darken Rahl gewesen sein, viel weniger noch für den neuen Lord Rahl. Er war ein mächtiger Zauberer, der ganze Armeen befehligte, Legionen mit der Gabe Gesegnete sowie zahllose andere, ihm treu ergebene Untertanen. Und sie? Sie war nichts weiter als eine einsame Frau, die kaum einen Menschen kannte und lediglich in Frieden ihr einfaches Leben leben wollte. Wie sollte sie seiner Herrschaft jemals gefährlich werden?
Selbst ihre wahre Geschichte würde kaum Erstaunen hervorrufen, wußte doch jeder, daß ein Lord Rahl ausschließlich nach seinen eigenen Gesetzen lebte. Niemand würde ihre Geschichte auch nur im Entferntesten in Zweifel ziehen, aber sie würde auch niemanden wirklich interessieren.
Plötzlich schien Jennsens ganzes Leben auf diese eine alles entscheidende Frage hinauszulaufen, Warum hatte ihr Vater, ein Mann, den sie nie kennen gelernt hatte, so verzweifelt ihren Tod gewollt? Und warum sollte sein Sohn, Richard Rahl, ihr Halbbruder und der derzeitige Lord Rahl, wie er die Absicht haben, sie zu töten? Das ergab keinen Sinn. Was konnte sie schon tun, um einem der beiden Schaden zuzufügen?
Jennsen steckte das Messer mit dem Emblem des Hauses Rahl in ihren Gürtel, schnappte sich ihren Umhang vom Bett und warf ihn sich um die Schultern. Sebastian fuhr mit der Hand durch seine weißen Haarstoppeln, während er ihr zusah, wie sie mit hastigen Bewegungen den Umhang verschnürte. »Wo wollt Ihr hin?«
»Bin gleich wieder zurück. Ich gehe nur kurz aus.«
Er griff nach seiner Waffe und seinem Umhang. »Einverstanden, ich werde...«
»Nein. Überlaßt das mir, Sebastian. Ihr habt meinetwegen schon genug riskiert. Ich möchte allein gehen. Sobald ich fertig bin, komme ich zurück.«
»Fertig womit?«
Sie ging zur Tür. »Mit dem, was ich zu erledigen habe.«
Er stand mitten im Zimmer, die geballten Fäuste in den Hüften und sichtlich unschlüssig, ob er ihrem ausdrücklichen Wunsch zuwiderhandeln sollte. Jennsen zog die Tür rasch hinter sich ins Schloß, um ihn nicht länger ansehen zu müssen. Sie sprang die Treppe zwei Stufen auf einmal nehmend hinunter, darauf bedacht, das Gasthaus so schnell wie möglich zu verlassen und fort zu sein, bevor er es sich anders überlegte und ihr folgte.
Ein Stockwerk tiefer ging es nach wie vor ausgelassen derb zu. Ohne all die Männer eines Blickes zu würdigen, hielt sie schnurstracks auf die Tür zu. Sie hatte diese noch nicht ganz erreicht, als ihr ein bärtiger Kerl den Arm um die Hüfte schlang und sie zurück in das Gedränge riß; ihr verhaltener Schrei ging im Sturm allgemeiner Ausgelassenheit unter. Der Kerl wirbelte sie herum, fing sie mit seiner rechten Hand auf und tanzte mit ihr über die Dielen.
Jennsen versuchte ihre Hand nach oben zu bringen und ihre Kapuze zurückzuschlagen, ihre rote Mähne zu befreien und ihm dadurch einen Schrecken einzujagen, bekam ihren Arm aber nicht frei. Und so konnte sie vor allem auch nicht ihr Messer ziehen, um sich zu verteidigen; ihr Atem war ein ängstliches Keuchen.
Der Kerl stimmte in das Gelächter seiner Kumpane ein, wirbelte sie zur Musik herum und hielt sie fest, um sie nicht mitten im Tanz zu verlieren. Seine Augen glänzten vor Vergnügen und hatten nichts Bedrohliches, was jedoch – dessen war sie sich bewußt – nur daran lag, daß sie noch nicht energisch Widerstand geleistet hatte. Sobald er ihren Widerwillen spürte, wäre es mit seiner Freundlichkeit gewiß vorbei.
Er ließ ihre Hüfte los und wirbelte sie herum. Jetzt, da nur noch eine Hand in seinen schwieligen Fingern gefangen war, hoffte sie, sich von ihm losreißen zu können. Tastend suchte sie mit der linken Hand ihr Messer, doch befand sich dieses unter ihrem Umhang und war somit für ihre freie Hand unerreichbar. Die Menge klatschte zum Rhythmus der Melodie von Flöten und Trommeln. Als sie sich umwandte und sich einen Schritt entfernte, bekam ein anderer Mann sie an der Hüfte zu fassen und schnappte sich ihre andere Hand; dabei stieß er so hart gegen sie, daß ihr der Atem ächzend aus den Lungen gepreßt wurde. Die Gelegenheit, ihre Kapuze zurückzuschlagen, war vertan, weil sie statt dessen versucht hatte, an ihr Messer heranzukommen!
Sie fühlte sich der wogenden Masse von Männern hilflos ausgeliefert. Die wenigen anderen Frauen, größtenteils Schankmädchen, waren entweder willig oder hatten den Bogen raus, sich kurz mit den Männern einzulassen, um sich gleich darauf wieder zu entfernen. Jennsen verstand nicht, wie sie dieses Kunststück vollbrachten, lief sie selbst doch ständig Gefahr, in der wogenden Masse aus Männern unterzugehen, die sie von einem zum nächsten weiterreichten.
Als sie kurz die Tür erblickte, riß sie sich kurzerhand los und befreite sich aus dem Griff des Mannes, der sie gerade hielt. Der Bursche, dem sie entwischt war, sah sich dem heiteren Spott der anderen ausgesetzt, und wie erwartet war es mit seiner Fröhlichkeit schlagartig vorbei, die anderen Männer jedoch bejubelten ihr Entkommen mit einem Bravoruf. Daraufhin verbeugte sich der Mann, dem sie entwischt war, und sagte, »Danke für den entzückenden Tanz, mein wunderhübsches Fräulein. Ihr habt einem alten Grobian wie mir damit einen großen Gefallen erwiesen.«
Sein Lächeln kehrte zurück und er zwinkerte ihr zu, bevor er sich umdrehte, um gemeinsam mit seinen Kumpanen weiter zum Rhythmus der Musik in die Hände zu klatschen.
Jennsen war wie vom Donner gerührt, als sie merkte, daß die Situation längst nicht so gefährlich war wie erwartet. Da packte sie abermals ein Arm um die Hüfte, doch fing Jennsen augenblicklich an, sich zu wehren und sich loszureißen.
»Ich wußte gar nicht, daß Ihr gerne tanzt.«
Es war Sebastian, Gott sei Dank. Erleichtert ließ sie sich von ihm aus der Gaststube führen.
Die kalte Luft der dunklen Nacht draußen war eine Wohltat. Sie atmete tief durch und war froh, den ungewohnten Geruch von Bier. Pfeifenrauch und schwitzenden Männern und auch den Lärm so vieler Menschen hinter sich lassen zu können.
»Ich sagte doch, Ihr sollt das mir überlassen«, meinte sie vorwurfsvoll.
»Was soll ich Euch überlassen?«
»Ich werde jetzt zu Latheas Haus gehen. Bleibt bitte hier, Sebastian, ja?«
»Aber nur. wenn Ihr mir verratet, warum ich Euch nicht begleiten soll.«
Sie hob eine Hand, ließ sie dann aber kraftlos sinken. »Ihr seid ein zu wichtiger Mann, Sebastian. Das ist meine Angelegenheit, nicht Eure. Mein Leben ist ... ich weiß nicht, eigentlich habe ich gar kein Leben. Aber Ihr habt eins, und ich möchte nicht, daß Ihr über Gebühr in mein Durcheinander verstrickt werdet.«
Sie stapfte los durch den verharschten Schnee. Er stopfte seine Hände in die Taschen und lief neben ihr her. »Ich bin ein erwachsener Mann, Jennsen. Erklärt mir bitte nicht was ich zu tun habe.«
Ohne etwas darauf zu erwidern, bog sie an einer Ecke in eine dunkle Seitenstraße ein.
»Verratet mir jetzt bitte, warum Ihr Lathea aufsuchen wollt, ja?«
Daraufhin blieb sie am Straßenrand stehen, in der Nähe eines unbewohnten Gebäudes unweit der Ecke, wo die Straße zu Latheas Haus abging.
»Ich war mein ganzes Leben lang auf der Flucht, Sebastian. Ich bin es leid. Mein ganzes Leben besteht nur aus Fliehen, Angst und Sichverstecken. Nie tue ich etwas anderes, nie habe ich einen anderen Gedanken im Kopf, als vor einem Mann wegzulaufen, der mich töten will, als ihm stets einen Schritt voraus zu sein, um am Leben zu bleiben.«
Er widersprach ihr nicht. »Und warum wollt Ihr nun diese Hexenmeisterin besuchen?«