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Der Mann hatte eine Art, sie anzustarren, die sie nervös machte, und zwar vor allem deshalb, weil sie sich dabei ertappte, daß sie ihm ebenso unverwandt in seine blauen Augen starrte. Endlich gelang es ihr, den Blick abzuwenden, und sie strebte weiter Richtung Tür.

»Kommt er Euch nicht auch irgendwie bekannt vor?«, raunte sie Sebastian zu und blickte sich noch einmal um.

»Doch. Wir sind ihm vorhin schon mal begegnet, draußen auf der Straße, auf dem Weg zu Latheas Haus.«

Bevor sie durch die Tür nach draußen trat, drehte sich der Mann noch einmal um, ganz so, als hätte er gespürt, daß sie ihn ansah. Als ihre Blicke sich trafen und er daraufhin lächelte, schienen die beiden für einen Augenblick ganz allein auf der Welt zu sein. Sein Lächeln war höflich, mehr nicht, und doch spürte sie, wie sie es kalt und schaudernd überlief, genau wie bei der leblosen Stimme in ihrem Kopf. Das Gefühl, das sich einstellte, sobald sie ihn ansah, hatte etwas beängstigend Vertrautes; irgendwas am Ausdruck seiner Augen erinnerte sie an die Stimme.

Es war, als erinnerte sie sich aus einem unergründlichen Traum an ihn, den sie bis zu diesem Augenblick vollkommen vergessen hatte. Ihn zu sehen, im Wachzustand, war zutiefst... erschütternd.

Sie war erleichtert, als sie in die menschenleere Nacht hinaustreten und sich auf den Weg machen konnten. Zum Schutz gegen den schneidend kalten Wind raffte sie die Kapuze ihres Umhangs eng um ihr Gesicht, während sie mit eiligen Schritten im Schnee die Straße entlang liefen. Die Kalte brannte ihr auf den Oberschenkeln; zum Glück war es nicht weit bis zum Stall, auch wenn sie wußte, daß sie dort nur kurz verschnaufen konnten. Es würde eine lange, kalte Nacht werden.

Während Sebastian den Stallmeister wecken ging, zwängte sich Jennsen durch das Scheunentor. Eine von einem Balken herabhängende Lampe spendete genug Licht, so daß sie sich zu dem Verschlag vortasten konnte, wo man Betty angebunden hatte. Sie begrüßte Jennsen mit einem herzzerreißenden Meckern, als hatte sie befürchtet, man könnte sie dort für immer zurückgelassen haben. Ihr aufgerichteter Schwanz wedelte fröhlich, als Jennsen sich auf ein Knie niederließ und der Ziege die Arme um den Hals schlang. Schließlich erhob Jennsen sich wieder und strich ihr mit der Hand über die seidenweichen Ohren, eine Berührung, die Betty in Verzückung geraten ließ. Als das Pferd im Stall nebenan den Kopf auf die Querstange legte, um seine Stallgefährtin zu beäugen, stellte sich Betty vor lauter Freude über das Wiedersehen mit ihrer lebenslangen Freundin auf die Hinterläufe und konnte es gar nicht mehr erwarten, ihr ganz nahe zu sein.

Jennsen tätschelte das drahtige Haar an Bettys dickem Bauch. »Gutes Mädchen.« Sie war zehn gewesen, als sie Bettys Geburt beigewohnt und ihr den Namen gegeben hatte. Betty, Jennsens einzige Freundin in Kindertagen, hatte geduldig ihren zahllosen Sorgen und Ängsten gelauscht, und als sich dann bei Betty die ersten Hörnerstummel zeigten, hatte sie den Kopf an ihrer treuen Freundin gerieben und bei ihr Trost gesucht. Abgesehen von der Angst, von ihrer lebenslangen Gefährtin im Stich gelassen zu werden, führte Betty ein nahezu sorgenfreies Leben.

Jennsen durchwühlte ihren Rucksack, bis sie eine Mohrrübe für die stets hungrige Ziege gefunden hatte; Betty nahm den Leckerbissen mit freudig wedelndem Schwanz in Empfang. Das Pferd im Stall nebenan schüttelte leise wiehernd den Kopf und verfolgte das Geschehen aus seinen glänzenden, intelligenten Augen. Jennsen lächelte und gab dem Pferd ebenfalls eine Möhre. Dann hörte sie das Klirren von Zaumzeug, als Sebastian mit dem Stallmeister zurückkehrte, beide mit Sätteln über den Armen. Die beiden Männer warfen ihre Last nacheinander über die Querstange von Bettys Verschlag, und Betty, der Sebastian noch immer nicht geheuer war, wich mehrere Schritte zurück.

»Ich werde die Gesellschaft Eurer kleinen Freundin vermissen«, meinte der Mann und deutete auf die Ziege, als er neben Sebastian trat.

Jennsen kraulte Bettys Ohren. »Danke, daß Ihr sie aufgenommen habt.«

»Nicht der Rede wert, die Nacht ist ja noch nicht einmal um.« Der Blick des Mannes schweifte von Sebastian zu Jennsen. »Wieso wollt Ihr zwei überhaupt mitten in der Nacht aufbrechen? Und warum wollt Ihr unbedingt Pferde kaufen? Noch dazu um diese Stunde?«

Ein panisches Angstgefühl ließ Jennsen erstarren. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß jemand sie danach fragen würde, und hatte deshalb keine Antwort parat.

»Es geht um meine Mutter«, antwortete Sebastian in vertraulichem Ton und fügte einen überzeugenden Seufzer hinzu. »Wir haben Nachricht erhalten, daß sie krank geworden ist. Niemand weiß, ob sie durchhält, bis wir bei ihr sein können. Ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn wir nicht ... also, jedenfalls müssen wir rechtzeitig dort sein, das ist alles.«

Das Mißtrauen im Gesicht des Mannes wich einem Ausdruck des Mitgefühls. Jennsen war überrascht, wie glaubwürdig Sebastian klang, und versuchte, es ihm gleichzutun und eine besorgte Miene aufzusetzen.

»Verstehe schon, junger Mann. Verzeiht – das konnte ich ja nicht ahnen. Was kann ich tun, um Euch zu helfen?«

»Welche Pferde könnt Ihr uns verkaufen?«, erkundigte sich Sebastian.

Der Mann kratzte sich das stopplige Kinn. »Laßt Ihr die Ziege hier?«

Sebastians »Ja« erfolgte im selben Augenblick wie Jennsens »Nein«.

Der Mann sah die beiden nacheinander mit großen Augen an.

»Betty wird uns bestimmt nicht aufhalten«, meinte Jennsen. »Sie ist durchaus in der Lage, Schritt zu halten. Wir werden trotzdem rechtzeitig bei Mutter sein.«

Der Mann wies mit einem enttäuschten Seufzen auf das Pferd, das Jennsen gerade hinter den Ohren kraulte. »Rusty versteht sich ganz gut mit Eurer Ziege. Schätze, ich kann sie Euch ebenso gut verkaufen wie eines der anderen Tiere. Ihr seid eine hoch gewachsene junge Frau, sie dürfte also ganz gut zu Euch passen.«

Jennsen erklärte sich mit einem Nicken einverstanden, das Betty, so als hätte sie jedes Wort verstanden, mit einem Meckern bekräftigte.

An Sebastian gewandt fuhr er fort, »Dann habe ich noch einen kräftigen kastanienbraunen Wallach, der für einen Mann Eures Gewichts besser geeignet wäre. Pete steht unten rechts, am Ende des Ganges. Ich wäre bereit, ihn Euch zusammen mit Rusty hier zu überlassen.«

»Wieso heißt sie Rusty?«, fragte Jennsen.

»In der Dunkelheit kann man es nicht so gut erkennen, aber sie ist ein Rotschimmel, wie es roter wohl kaum einen gibt, und zwar von Kopf bis Fuß – bis auf die Blesse an der Stirn.«

Rusty beschnupperte Betty, die wiederum Rustys Nüstern abschleckte. Das Pferd antwortete mit einem leisen Schnauben.

»Wir nehmen Rusty«, meinte Sebastian. »Und das andere Pferd auch.«

Der Stallmeister kratzte sich erneut die Bartstoppeln und besiegelte den Vertrag mit einem Nicken. »Ich werde Pete holen gehen.«

Als die beiden zurückkamen, bemerkte Jennsen zu ihrer Freude, daß Pete seine Schnauze zur Begrüßung an Rustys Schulter rieb. Jennsen verspürte nicht die geringste Lust, sich ausgerechnet jetzt da ihnen die Gefahr so dicht auf den Fersen war mit zwei streitsüchtigen Pferden abplagen zu müssen, die beiden schienen jedoch recht gut miteinander auszukommen.

Nach dem Fußmarsch versprach das Reisen hoch zu Roß und in eine Decke gehüllt eine willkommene Erleichterung. Das Pferd würde ihr helfen, sich warm zu halten, und machte die Aussicht auf die vor ihr liegende Nacht erträglicher. Für Betty, die sich gern von Dingen am Wegesrand ablenken ließ, nahmen sie einen langen Strick mit.

Jennsen wußte nicht, was Sebastian für die Pferde samt Zaumzeug bezahlen mußte, es war ihr auch gleich. Das Geld stammte von den Mördern ihrer Mutter und würde ihnen zur Flucht verhelfen. Und allein darauf kam es an.

Dem Stallmeister zuwinkend, der ihnen das große Tor aufhielt, ritten sie hinaus in die eiskalte Nacht. Die beiden Pferde, offensichtlich erfreut über die Aussicht auf Bewegung, schlugen trotz der späten Stunde auf der Straße ein forsches Tempo an. Rusty drehte ihren Kopf nach hinten, um sich zu vergewissern, daß Betty, die links von ihnen lief, Schritt hielt.