Nicht lange, und sie hatten das letzte Gebäude hinter sich gelassen. Zarte Wolken jagten vor dem aufgehenden Mond dahin, trotzdem blieb noch genügend Licht, um die verschneite, durch die undurchdringliche Dunkelheit der Wälder zu beiden Seiten führende Straße in ein schimmerndes Band zu verwandeln.
Plötzlich spannte sich Bettys Strick ruckartig. Jennsen, in Erwartung, Betty bei dem Versuch zu ertappen, einen jungen Sproß anzuknabbern, sah über ihre Schulter. Statt dessen hatte Betty steifbeinig die Hufe in den Boden gestemmt und weigerte sich weiterzugehen.
»Betty!«, fuhr Jennsen sie an. »Los jetzt. Was hast du nur? Komm endlich.« Wegen ihres geringen Gewichts war die Ziege dem Pferd nicht gewachsen und wurde so gegen ihren Willen die Straße entlang mitgeschleift.
Als Sebastians Pferd kurz darauf seitlich ausbrach und Rusty anrempelte, erkannte Jennsen den Grund des Ärgers. Sie waren soeben im Begriff, einen Mann zu überholen, der die Straße entlangging. Wegen seiner dunklen Kleidung hatten sie ihn am rechten Straßenrand, vor dem Hintergrund der dunklen Bäume, nicht bemerkt. Da Jennsen wußte, daß Pferde Überraschungen nicht mochten, tätschelte sie Rustys Hals und redete beruhigend auf sie ein. Betty hingegen, nach wie vor nicht überzeugt, nutzte die ganze Länge des Stricks, um ihn in weitem Bogen zu umgehen.
Jennsen erkannte, daß es sich um den hünenhaften Blonden aus dem Gasthaus handelte, den Mann, der angeboten hatte, sie auf ein Glas einzuladen – den Mann, der ihrem Gefühl nach aus irgendeinem Grund eher in ihre Träume gehörte als in ihr Leben im Wachzustand.
Jennsen ließ den Mann beim Überholen nicht aus den Augen; Sebastian und der Fremde tauschten im Vorübergehen einen kurzen Gruß. Betty hingegen lief, nachdem sie den Mann passiert hatte, voraus und zerrte an ihrem Strick, so als könnte sie es gar nicht erwarten, auf Abstand zu dem Mann zu gehen.
»Grushdeva du kalt misht.«
Jennsen entfuhr ein kurzes Stöhnen, bevor es ihr vor Schreck endgültig den Atem verschlug; sie wandte sich um und starrte den hinter ihr auf der Straße gehenden Mann mit großen Augen an. Es hatte so geklungen, als hatte er die Worte gesprochen. Aber das war unmöglich; die seltsamen Worte stammten aus dem Innern ihres Kopfes.
Sebastian nahm von all dem keine Notiz, daher erwähnte sie es gar nicht erst, um nicht für verrückt gehalten zu werden.
Mit Bettys Einverständnis trieb sie ihr Pferd an, ein wenig schneller zu gehen.
Kurz bevor sie eine Biegung der Straße hinter sich ließen und außer Sicht gerieten, blickte Jennsen sich ein letztes Mal um. Im Mondschein konnte sie ganz deutlich sehen, wie der Mann sie angrinste.
13
Oba war gerade damit beschäftigt, einen Strohballen vorn Heuboden hinunterzuwerfen, als er die Stimme seiner Mutter hörte.
»Oba! Wo steckst du wieder? Komm sofort herunter!«
Hastig kletterte Oba die Leiter hinunter.
»Was gibt’s denn, Mama?«
»Wo ist meine Medizin? Und deine Arznei?« Ihr wütender Blick wanderte über den Boden. »Wie ich sehe, hast du diese Schweinerei noch immer nicht aus der Scheune geschafft. Ich habe dich gestern Abend gar nicht nach Hause kommen hören. Was hat dich so lange aufgehalten? Sieh dir das Freßgitter an! Hast du es etwa immer noch nicht in Ordnung gebracht? Was hast du die ganze Zeit getrieben? Muß ich dir eigentlich jede Kleinigkeit erklären?«
Oba war unschlüssig, welche Frage er zuerst beantworten sollte. Nach den Ereignissen des gestrigen Abends, nach allem, was er gelernt hatte, hatte er eigentlich geglaubt, gegenüber seiner Mutter ein wenig selbstsicherer auftreten zu können.
Am hellichten Tag aber, hinter der Scheune vor seiner Mutter stehend, die sich wie ein drohendes Unwetter vor ihm aufgepflanzt hatte, fühlte er sich angesichts ihrer wütenden Beschimpfungen im Großen und Ganzen genau wie immer, beschämt, klein und minderwertig. Bei seiner Heimkehr hatte er sich noch stark gefühlt, wichtig, jetzt aber glaubte er, in sich zusammenzuschrumpfen; ihr Gezeter machte ihn völlig hilflos.
»Also, ich hab ...«
»Rumgetrödelt hast du! Und sonst gar nichts – rumgetrödelt! Ich stehe hier und warte auf meine Medizin, die Knie tun mir weh, während mein Sohn Oba, dieser Einfaltspinsel, längst vergessen hat, weshalb ich ihn losgeschickt habe!«
»Ich hab nichts vergessen ...«
»Wo ist dann meine Medizin? Wo, red schon!«
»Ich hab sie nicht bekommen, Mama ...«
»Wußte ich’s doch! Ich wußte, daß du das Geld verprassen würdest, das ich dir mitgegeben habe. Ich schufte mir beim Spinnen die Finger blutig, um es zu verdienen, und du ziehst einfach los und verpraßt es mit irgendwelchen Weibern! Jawohl, das hast du getan, rumgehurt hast du!«
»Nein, Mama!«
»Wo ist dann meine Medizin? Wieso hast du sie nicht besorgt, wie ich es dir aufgetragen habe?«
»Das ging nicht weil ...«
»Weil du einfach keine Lust hattest, du nichtsnutziger Einfaltspinsel! Du brauchtest bloß zu Lathea zu gehen ...«
»Lathea ist tot.«
Da, jetzt war es heraus. Er hatte es gesagt, ans Licht gebracht.
Der Mund seiner Mutter stand weit offen, es sprudelten allerdings keine Worte daraus hervor. Noch nie zuvor hatte er sie so jäh verstummen sehen, noch nie hatte er sie so schockiert gesehen, daß ihr der Unterkiefer einfach herunterklappte. Der Anblick gefiel ihm.
Oba kramte eine Münze aus seiner Tasche, eine Münze, die er eigens zurückbehalten hatte, damit sie nicht glaubte, er hätte das Geld ausgegeben. Mitten in diesem erregenden Moment seltener Stille reichte er ihr das Geldstück.
»Tot ... Lathea?« Sie starrte auf die Münze in ihrer Hand. »Was soll das heißen, tot? Ist sie krank geworden?«
Oba schüttelte den Kopf; sobald er daran dachte, was er mit Lathea gemacht hatte, wie er mit dieser verdrießlichen Hexenmeisterin umgesprungen war, fühlte er, wie sein Selbstvertrauen wuchs.
»Nein, Mama, ihr Haus ist abgebrannt. Sie ist in den Flammen umgekommen.«
»Ihr Haus ... abgebrannt ...« Seine Mutter runzelte mißtrauisch die Stirn. »Woher weißt du überhaupt, daß sie umgekommen ist? Es ist mehr als unwahrscheinlich, daß Lathea sich von einem Feuer überraschen läßt. Die Frau ist immerhin Hexenmeisterin.«
Oba zuckte mit den Achseln. »Also, ich weiß nur, daß ich einen ziemlichen Aufruhr hörte, als ich in den Ort kam. Leute liefen runter zu ihrem Haus, dann sahen wir, daß es lichterloh brannte. Kurz darauf hatte sich eine riesige Menschenmenge versammelt, aber die Hitze war so groß, daß es vollkommen unmöglich war das Haus zu retten.«
Zumindest der letzte Teil entsprach zu einem gewissen Grad der Wahrheit, denn als er nach seinem Besuch im Wirtshaus auf dem Heimweg war, kurz nachdem ihn diese Jennsen und der Mann in ihrer Begleitung überholt hatten, hatte er Leute rufen hören, unten bei Latheas Haus sei ein Feuer ausgebrochen. Gemeinsam mit den anderen war Oba die lange dunkle Straße entlanggerannt, immer auf den orangefarbenen Lichtschein zwischen den Bäumen zu. Er war nichts weiter als ein unbeteiligter Passant, genau wie alle anderen, es bestand nicht die geringste Veranlassung, ihn wegen irgend etwas zu verdächtigen.
»Vielleicht hat Lathea sich ja aus den Flammen retten können.« Es klang eher, als wollte seine Mutter sich selber überzeugen und nicht ihn.
Oba schüttelte den Kopf. »Ich bin noch dageblieben, weil ich dasselbe hoffte wie du, Mama. Ich blieb und tat, was ich konnte. Deshalb war ich auch erst so spät zurück.«
Auch das entsprach zum Teil der Wahrheit, Er war, zusammen mit allen anderen, noch geblieben, hatte sich das Feuer angeschaut und das Gerede gehört, hatte die angespannte Erwartung ausgekostet, die in der Menge herrschte, das Getratsche und die wilden Spekulationen.
»Sie ist eine Hexenmeisterin. Es ist mehr als unwahrscheinlich, daß eine solche Frau einem Brand zum Opfer fällt.«